Oliver Everling Robert Lempka (Hg.)

Finanzdienstleister der nächsten Generation

 
Megatrend Digitalisierung: Strategien und Geschäftsmodelle
 
1. Auflage 2016
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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ISBN 978-3-95647-043-1 (Print)
ISBN 978-3-95647-044-8 (PDF)
ISBN 978-3-95647-045-5 (ePub)
ISBN 978-3-95647-046-2 (Mobi)
1. Auflage 2016  © Frankfurt School Verlag GmbH, Sonnemannstraße 9-11, 60314 Frankfurt am Main

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort
I   Rahmenbedingungen für die Finanzbranche
Zukunftsfähiges Banking im perfekten Zusammenspiel zwischen Mensch und Technologie
Martin Kinting/Stephanie Wißmann
FinTechs erobern die Bankenwelt
Frank Niehage
Investing with the Enemy
Steven J. Bates
II   Digitale Innovationen
Erfolgsfaktoren für Geschäftsmodelle im Mobile Payment
Mario Geiß/Jürgen Moormann/Francesco Pisani
Bitcoin: Next Big Thing – oder ewiges Experiment?
Oliver Flaskämper/Christoph Bergmann
Trading mit Sentiment-Indikatoren aus Social Media
Dietmar Janetzko/Stefan Nann/Jonas Krauß/Detlef Schoder
Social Trading: die moderne Geldanlage
Sarah Brylewski/Robert Lempka
Social Index Engineering
Christian Libor
Robo Advice – die Zukunft der Geldanlage
Thomas Bloch/Oliver Vins
Vom Robo Advice zum Robo Wealth Management – „Demokratisierte“ Algorithmen, Künstliche Intelligenz und Deep Learning im Dienste von Privatanlegern
Hartmut Giesen
The Digital Lending Revolution
Paul Morgenthaler
Rating and Credit Limit: Definitions and Background
Mattia Ciprian/Valentino Pediroda
Der CFD als „Universal Wrapper“ (Basisprodukt) für Next-Generation-Finance-Geschäftsmodelle
Gustav Meyer zu Schwabedissen/Oliver Prager
III   Strategien für Kreditinstitute
Das Ende der Bankberatung
Christian Rieck
Vorsicht: Onlineberatung!
Stephan Meusel
Kultur der Transformation – Mindshift in der Bank der Zukunft
Jewgeni Goranko/Sebastian Frederick Müller/Katharina Herrmann
Was Banken von FinTechs lernen können
Ingo Kipker/Sebastian Serges
FinTech-Banken-Kooperationen – Strategien, Praxis, Erfahrungen
Robert Freitag
IV   Geschäftsmodelle
Zukunft Cross-Channel-Payment
Martin Zander
WeltSparen: die Onlineplattform für Sparprodukte
Daniel Berndt/Tamaz Georgadze
Evolution in der Fonds-Vermögensverwaltung
Rudolf Geyer
Kooperation statt Konfrontation – Kreditvergleichsportale als Treiber der Digitalisierung von Banken
Andreas Kupke/Julia Weber
Autoren

Geleitwort

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,
mit unglaublicher Dynamik durchdringt die Digitalisierung alle Lebensbereiche und prägt das Verhalten der Anbieter von Produkten und Dienstleistungen jeglicher Art genauso wie das der Nutzer. Anders als die Innovationsentwicklungen der Vergangenheit wie z.B. der industriellen Automatisierung ersetzt die Digitalisierung nicht nur einzelne Produktionsschritte oder eine industrielle Fertigungskette, sondern sie ermöglicht über die Speicherung, Analyse und Vernetzung von Daten hinaus mittels Sensoren die selbstständige Kommunikation der digitalisierten Produkte und Geräte untereinander. Kein leerer Kühlschrank nach Urlaub oder Dienstreise, kein Alltagssport ohne Auswirkung auf den Krankenversicherungstarif, je nach Aktivität positiv oder negativ, das Auto als rollendes Smartphone in engem Austausch mit anderen Autos im Straßenverkehr oder mit den Verkehrsleitsystemen – die Beispiele lassen sich beliebig aus allen Lebensbereichen fortsetzen.
Eine veränderte Welt voller Chancen, neuer grenzenloser Perspektiven und großem Wachstumspotenzial oder eher eine „Brave New World“ im Sinne von Aldous Huxley, die zur Einschränkung der Selbstbestimmung und Selbstständigkeit des Einzelnen führt? Oder um es mit den Worten von Eric Schmidt, des früheren Google-Verwaltungsratsvorsitzenden und jetzigen Vorstandsmitglieds der neuen Gesellschaftskonstruktion Alphabet von Google zu sagen: „Wir wissen, wo Du bist, wir wissen, wo Du warst. Wir können mehr oder weniger wissen, was Du denkst.“
Mittels künstlicher Intelligenzen und Algorithmen, die dem Einzelnen eine schöne neue Welt versprechen, so wie er sie angeblich schon immer wollte, es aber gar nicht wusste, ist der Mensch der Gefahr ausgesetzt, zunehmend entrechtet und bevormundet zu werden.
Weder blinder Technikglaube noch ausgeprägter Kulturpessimismus können die Antworten auf die grenzenlose Digitalisierung sein. Vielmehr ist das Wissen über ihre Chancen und Risiken genauso notwendig wie ein angemessener zumindest europaweiter rechtlicher Gestaltungsrahmen, der auch international agierende Konzerne mit Sitz außerhalb der Europäischen Union bindet. Im Mittelpunkt dieses Ordnungsrahmens muss die Selbstbestimmung des Einzelnen stehen. Bezogen auf die Digitalisierung bedeutet dies, dass der Bürger und die Bürgerin auch im 21. Jahrhundert wissen müssen, welche Daten von ihnen zu welchen Zwecken und mit welchen Auswirkungen verarbeitet werden. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht überholt, der Schutz der Privatsphäre ist kein Relikt aus dem 20. Jahrhundert und totale Transparenz ist kein Wert an sich.
Dies gilt auch für die Finanzdienstleistungen, für das bargeldlose Bezahlen, für Onlinekredite, für den Hochfrequenzhandel, für das gesamte Bankengeschäft und für die so wichtige Entscheidung über die Bonität des potenziellen Kunden. Mit diesen komplexen Themen befasst sich das vorliegende Buch. Wird es künftig überhaupt noch persönliche Bankberatung geben oder soll sich der Bürger über Apps und allgemein im Netz über Chancen und Risiken von Geldanlagen informieren? Erfolgt Vermögensberatung und Vermögensverwaltung zukünftig ausschließlich online und ersetzen mobiles Payment und Bitcoin anstelle des vollen Portemonnaies und raschelnder Geldscheine jeden Bezahlvorgang?
Über diese Entwicklungen wird seit Jahren geforscht, diskutiert und einige werden bereits praktiziert. Neben den faszinierenden Perspektiven des schnellen, grenzenlosen und bargeldlosen Finanz- und Vermögenstransfers müssen auch die Risiken für den Anleger und einfachen Sparer gesehen werden. Meistens ist es ihm gar nicht möglich, Vermögensanlagen bewerten und dahingehend einschätzen zu können, ob sie für ihn passend und angemessen sind. Der fehlende Überblick über die eigenen Finanzen kann zu leichtsinnigen Vermögensentscheidungen führen, die die eigene finanzielle Leistungsfähigkeit übersteigen.
Aber noch wichtiger ist die Frage, wer für fehlerhafte Produkte und verzerrende Online-Information haftet? Die anbietende Plattform, der Host – oder der Internet Service Provider? Die derzeitige Produkt- und Bankenhaftung ist nur dank der höchstrichterlichen Rechtsprechung in den vergangenen Jahren etwas anleger- und verbraucherfreundlicher geworden. Sie kann in ihrer Differenziertheit nicht einfach auf jedes Onlinebankengeschäft übertragen werden.
Die Selbstbestimmung des Verbrauchers und der Schutz seiner persönlichen Daten sind gerade im finanziellen Bereich besonders wichtig. Niemand möchte, dass seine Kontodaten, Bezahlvorgänge und Vermögensanlagen einsehbar, nutzbar und verfügbar sind. Zu der höchstmöglichen Sicherheit der in der Cloud gespeicherten Finanzdaten kommt der Schutz vor dem unberechtigten oder expansiven Zugriff staatlicher Institutionen. Nicht vergessen ist der massenweise und unbeschränkte Zugriff des US-amerikanischen Finanzministeriums und der CIA auf das System des Finanzdienstleisters SWIFT (Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication) nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Inzwischen mehren sich die Stimmen, dass die Weitergabe der Daten wegen Verletzung datenschutzrechtlicher Bestimmungen rechtswidrig war. Ein gelinder Trost für alle Betroffenen, denn ihre Datenschutzrechte sind jahrelang massiv verletzt worden.
Datenschutz muss im digitalen Zeitalter sehr früh ansetzen, nicht erst bei der Verwertung der digital in unglaublicher Menge entstehenden Daten. Technischer Datenschutz mit dem Ziel der Minimierung des Entstehens personenbezogener Daten und datenschutzfreundliche Anwendungen verbunden mit verstärkter Anonymisierung und Pseudonymisierung können das informationelle Selbstbestimmungsrecht stärken.
Datenschutz und Selbstbestimmung sind modern, sie verhindern nicht technische Entwicklungen und sollten auch zum Markenzeichen der Finanzwirtschaft werden.
Mit dem Buch erwartet Sie eine informative Lektüre.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
(Bundesjustizministerin a.D.)

I   Rahmenbedingungen für die Finanzbranche

Zukunftsfähiges Banking im perfekten Zusammenspiel zwischen Mensch und Technologie

Martin Kinting/Stephanie Wißmann
 
1  
Eine Branche vor großen Herausforderungen
1.1  
Problemstellung: Kosten- und Wettbewerbsdruck
1.2  
Die Antwort: Technologie als Kosten- und Effizienzwerkzeug?
1.3  
Vor der Lösung: Die wahren Problemfelder identifizieren
2  
Das große Missverständnis Digitalisierung
2.1  
Sozial oder die neue Definition von Nähe
2.2  
Erosion des Expertentums
2.3  
Die neue Macht des Kunden
3  
Ansatzpunkte
3.1  
Strategie
3.1.1  
Was bietet die Bank?
3.1.2  
Die richtige Definition von Vertrauen
3.2  
Struktur
3.2.1  
Das Zusammenspiel der Vertriebskanäle
3.2.2  
Die Rolle der Filiale
3.3  
Kultur
3.3.1  
Die veränderte Rolle des Beraters
3.3.2  
Die veränderte Rolle des Kunden
3.4  
Technologie
3.4.1  
Die veränderte Rolle der IT
3.4.2  
API und offene Architekturen
3.4.3  
Algo-Banking
3.4.4  
Die Rolle der Daten
4  
Die neue Verbindung von Mensch und Technik
4.1  
Gamification
4.2  
Kontextbasiert und Instant
4.3  
Live Interaktion
4.4  
Aufbau von Communities
4.5  
Der Plattform-Gedanke oder Aufbau von Ökosystemen
5  
Fazit
Literatur

1  Eine Branche vor großen Herausforderungen

Verändertes Kundenverhalten und der wachsende Einfluss von digitalen Technologien scheinen die zwei stärksten Pole zu sein, von denen der Wandel – nicht nur in der Finanzbranche – getrieben wird. Die Pole sind selbst in Bewegung. Sie beeinflussen und verstärken sich gegenseitig, sie üben ihre Anziehungskraft auf unterschiedliche Elemente aus. Und in deren gelungenem Zusammenspiel, in ihrem harmonischen „Takt“ liegt gleichzeitig die Antwort.
In der öffentlichen Wahrnehmung scheint die Technologie ein Grund dafür zu sein, dass sich Kunden von der persönlichen Bankberatung abwenden und neuen Mitspielern im Markt eine Chance geben, ihr Geld zu verwalten. Das Internet hat die Vergleichsmöglichkeiten erhöht und verändert damit auch den Zugang zu Produkten und Beratung. Durch die verstärkte Nutzung von Mobile- und Onlinebanking gehen auf den ersten Blick immer mehr persönliche Kontaktpunkte zur Bank verloren. Das bestehende Geschäftsmodell, die Art und Weise, wie Banken über Jahrzehnte funktioniert haben, beginnt zu erodieren. Auf der Suche nach einem Schuldigen werden teilweise traditionelle Beratung und Online-Finanzdienstleistungen gegeneinander ausgespielt (als sich abstoßende Pole bezeichnet). Neidisch blickt man auf FinTechs, die mit ihrer vermeintlichen Innovationskraft und ihren technologisch ansprechenden Lösungen den Finanzmarkt aufzurollen und teilweise sogar überrollen zu scheinen.
Dabei wird übersehen, dass viele FinTechs etwas anstreben, was die Banken bereits haben: Eine breite Kundenbasis. Diese zu nutzen, durch eine intelligente Verbindung von Technik und Mensch verloren gegangenes Vertrauen wieder aufzubauen sowie die Bindung zu ihren Kunden nachhaltig zu stärken – darin liegt der Schlüssel für ein zukunftsfähiges Banking. Grundlegende Prozesse, Arbeitsweisen und Strukturen müssen hinterfragt beziehungsweise vollkommen neu gedacht werden. Nur wenn die bislang vorherrschenden Verhaltensmuster – sowohl in der Art und Weise der Kundenansprache als auch in der internen Organisation der Banken – und technologischen Prozesse vom Kunden und innovativeren, technologischen Möglichkeiten her konzipiert werden und sie nicht rein auf operative Exzellenz oder Kostenprozessoptimierung abzielen, ist ein zukunftsfähiges Banking möglich. Die Basis hierfür liegt in kundenorientierten Frontends, kostengünstigen und flexibleren Betriebsmodellen und Prozessen, die digital konzipiert wurden. So kann es gelingen, den veränderten Anforderungen des hybriden Kunden von morgen in Finanzfragen bei Finanzentscheidungen zu entsprechen.

1.1  Problemstellung: Kosten- und Wettbewerbsdruck

Die Finanzbranche wandelt sich grundlegend. Neue Akteure mit völlig neuen Lösungsmustern und Unternehmensstrukturen drängen in den Markt und erhöhen den Wettbewerbsdruck auf etablierte Banken. Dies führt auch zu einer Konsolidierung.
Auf der Kostenseite werden Banken von einer Vielzahl von Anforderungen bedrängt. Da ist zum einen die wachsende Anzahl regulatorischer Vorschriften. Darüber hinaus sorgt insbesondere die anhaltende Niedrigzinsphase für eine Erosion des ursprünglichen Geschäftsmodells. Zudem belasten zusätzliche Kapitalanforderungen und immer noch dichte Filialnetze.
Zu diesen branchenspezifischen Problemen kommen ein erhöhter Wettbewerbsdruck und Veränderungen im Markt. Im Wettbewerb um die Kunden entstehen immer mehr Lockangebote. 0 EUR für das Girokonto sind fast schon zum Branchenstandard geworden und werden ergänzt um Wechselprämien bis zu 150 EUR. Doch der Kampf um den Kunden ist alleine durch Konditionen, Rabatte und Preise nur schwer zu gewinnen, wie zum Beispiel der Einzelhandel zeigt.
Dass diese Angebote wenig langfristigen Erfolg versprechen, liegt ebenfalls an einer Entwicklung, die nicht nur die Finanzbranche betrifft. Die Zeiten des Verkäufermarktes, in dem alleine die Kombination eines wenig informierten Kunden und eines guten Vertriebsnetzes für Erfolg sorgte, sind vorbei. Kunden sind zwar nur oberflächlich informierter denn je – das zeigen die immer noch erschreckenden Zahlen zum schlechten Finanzwissen der Deutschen[1] – aber der Zugang zu Informationen ist durch das Internet jederzeit möglich und nicht mehr allein auf den Kanal des Bankberaters reduziert.
In der Finanzbranche wird die Haltung des kritischen Konsumenten, der gegenüber Angeboten resistenter reagiert, etwa mit Ablehnung oder erhöhtem Informationsbedarf, noch verstärkt durch die Auswirkungen der Finanzkrise. Das blinde Vertrauen gegenüber dem Bankbeamten ist dahin, ebenso das in die Beratungsleistung der Mitarbeiter und in das Bankensystem im Allgemeinen.

1.2  Die Antwort: Technologie als Kosten- und Effizienzwerkzeug?

Technologie könnte hier eine Antwort liefern. Technologisch basierte Banking-Angebote bieten bessere Kostenstrukturen sowie schnellen Service und Zugriff, zudem sind sie nicht an Öffnungszeiten gebunden. Allerdings werden eine Durchdringung der Nutzung des Onlinebankings von lediglich 50%[2] und die vergleichsweise niedrige Zahl der online getätigten Abschlüsse bei Finanzprodukten immer wieder als Argumente gegen ein digitalisiertes Banking genannt. Zwar werden diese Stimmen leiser, angesichts der wachsenden Zahl der FinTechs, die mit rein digitalen Angeboten neue Kunden gewinnen. Doch die Meinung, dass Finanzberatung einer menschlichen Komponente bedarf und Self-Service-Angebote nur begrenzt genutzt werden, herrscht weiterhin vor.
Allerdings greift dies zu kurz. Die bisherigen digitalisierten Bankprozesse in Form von Online-Angeboten treffen vielleicht deshalb noch auf wenig Zuspruch, weil sie auf die Marktanforderungen der digitalen Nutzergruppen keine adäquate Antwort liefern. Denn sie basieren auf einer IT-getriebenen Wertschöpfungskette, die vor allem aus Unternehmensinnensicht heraus effizient organisiert ist und noch immer strikt zwischen Produktion und Vertrieb trennt. Statt eines ansprechenden Kundenfrontends dominieren Abfragemasken, die den Backend-Bearbeitungsprozess oder Onboarding-Vorgänge bankintern zwar beschleunigen, aber auf Kosten des Kundenerlebnisses gehen. FinTech-Anbieter, die eine Girokontoeröffnung komplett mobil und innerhalb von wenigen Klicks ermöglichen, lassen etablierte Banken oft (im wahrsten Sinne des Wortes) alt aussehen.

1.3  Vor der Lösung: Die wahren Problemfelder identifizieren

Langsam scheinen die Banken die komplexe Problematik und die Verbindung zwischen den beschriebenen Polen zu erkennen. Doch der Einführung neuer Denkmuster unangepasster Geschäftsmodelle stehen viele Hemmnisse entgegen. Zu den am schwierigsten veränderbaren Elementen zählen dabei die Strukturen innerhalb der Banken.
Banken sind an Systeme gefesselt, die sehr oft bereits viele Jahre (in Teilen sogar Jahrzehnte) im Einsatz sind. Vielfach ist die verwendete Technologie veraltet und über die Jahre stückweise erweitert worden. Es finden sich noch fast überall in die Jahre gekommene Programmiersprachen und verzweigte, isolierte Datenbankstrukturen. Auf deren Basis lassen sich heute kaum innovative Software-Anwendungen entwickeln, mit denen flexibel und schnell auf Marktanforderungen reagiert werden kann. In diesem Punkt haben die neuen Player am Markt einen klaren Wettbewerbsvorteil, weil sie mit ihrer Technologie und IT auf der grünen Wiese beginnen und diese gleich skalierbar aufsetzen können. Sie nutzen moderne, agile Entwicklungsmethoden und müssen aufgrund ihres Frontend-Ansatzes weniger Lasten durch umfangreiche Legacy-Systeme tragen.
Traditionelle Banken müssen dagegen oft Veränderungen „am offenen Herzen“ vornehmen, also mögliche Innovationen in den laufenden Betrieb einbauen. Die veralteten IT-Strukturen fördern zudem das Silodenken, das in den Abteilungen herrscht. Fach- und IT-Abteilung sind oft quasi entkoppelt. Interdisziplinäres Arbeiten zwischen einzelnen Sektionen ist die Ausnahme, nicht die Regel, auch aus Gründen der Compliance. Prozesse sind vielfach an die gewachsene Hierarchiestruktur gebunden und greifen nicht genug ineinander. Die bestehenden Technologielösungen sind ein Abbild dieser Strukturen, in denen Features und Anforderungen von Fachabteilungen gesammelt, und anschließend von der IT umgesetzt werden. So entstehen Anwendungen, die nicht den Kern treffen, auf den sie eigentlich abzielen sollten – das Bedürfnis des Bankkunden.
Abbildung 1: Die Problemstellung
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2  Das große Missverständnis Digitalisierung

Am Schlagwort Digitalisierung kommt keiner vorbei. Was sie allerdings genau beinhaltet und welche weitreichenden Folgen für unser Zusammenleben, das Arbeiten und die Gesellschaft sie bringt, beginnen wir erst allmählich zu verstehen. Es geht nicht um mehr Bits und Bytes. Die Digitalisierung zieht sich durch jeden Bereich unseres Lebens und stellt es auf den Kopf. Der Grund hierfür liegt in der Verfügbarkeit von Informationen. Der Begriff digitale Transformation, der oft in diesem Zusammenhang gewählt wird, ist falsch oder zumindest unscharf. Denn er impliziert, dass diese Entwicklung ein Ende hat. Ein Ende dieser Entwicklung ist jedoch nicht absehbar, stetiger Wandel und Anpassung an die aktuelle Situation notwendig und die Umwälzungen in den Märkten revolutionär. Dieser Dynamik muss das Umdenken in den Köpfen Rechnung tragen. Ein Perspektivwechsel wird erfolgen: Der Kunde steht im Mittelpunkt.

2.1  Sozial oder die neue Definition von Nähe

Eines der größten Missverständnisse im Rahmen der Digitalisierung ist die Verengung von sozialer Interaktion auf bestimmte Kanäle und damit verbunden eine falsche Definition von Nähe.
Nähe, die in mancher Definition häufig noch rein in Bezug auf die Verfügbarkeit von Filialen und den Zugriff auf Berater reduziert wird, muss im digitalen Zeitalter neu gedacht werden. Kommunikative Nähe kann sich ebenso in Kommunikation via Chat oder E-Mail äußern. Untersuchungen zeigen, dass Kunden elektronische Kontaktpunkte positiv bewerten und nicht einzig auf den persönlichen „face to face“-Kontakt bestehen.[3] Persönliche Kontakte sind wichtig. Ob sie zwingend auch persönlich und immer auch vor Ort erfolgen müssen, ist eine andere Frage. Nähe definiert sich in der digitalen Welt nicht in Metern, sondern in Werten wie Vertrauen.
Das „know-your-customer-Prinzip“ bekommt eine neue Bedeutung: Nur wer seinen Kunden sehr gut kennt, kann ihn entsprechend seiner Bedürfnisse beraten, auf einer für ihn wichtigen emotionalen Ebene abholen und langfristig zufriedenstellen. Dazu gehört auch zu wissen, ob eine Ansprache auf dem digitalen Weg in bestimmten Situationen für manche Kunden besser geeignet ist.
Die neue Definition von Nähe ist so entscheidend, weil die Entscheidung für Finanzprodukte oft noch an die Berater, bzw. den Menschen gekoppelt wird. Untersuchungen, die das Thema auch aus Endkundensicht aufgreifen, zeigen die Diskrepanz, die zwischen der Wahrnehmung der Berater und der Kunden in Bezug auf die Beratung besteht. Ein klassischer Fall von unterschiedlicher Selbst- und Fremdwahrnehmung.[4]

2.2  Erosion des Expertentums

Experten werden zunehmend von Autoritätsverlust bedroht und durch das Netz ersetzbar gemacht. Das Internet verschafft jedem, der sich intensiv mit einer Materie beschäftigt, einen Informationsvorsprung. Die Rolle angestammter Experten ändert sich somit dramatisch. Im Extremfall könnten dann aus Lehrern Vorleser und aus Verkäufern Kassierer werden. Die Chance für die Berater liegt darin, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen und Erfolge durch die Verbindung von persönlicher Stärke, traditionellem Erfahrungswissen mit neuer, smarter Technologie zu erzielen. Aber wie? Dazu müssen wir zunächst die veränderten Einflussmöglichkeiten des heutigen Kunden anschauen.

2.3  Die neue Macht des Kunden

Auf dem Weg in die digitalisierte Gesellschaft kommen die Menschen unterschiedlich schnell voran. Das Onlinebanking hat eine Verbreitung von 50% und jeder dritte Deutsche ist auf Facebook zu finden. Dazu kommen immer andere Onlineangebote, die genutzt werden, Tendenz stark steigend. Informationen werden öfter online gesucht, Preise mobil verglichen, Auskünfte in sozialen Netzwerken eingeholt oder Freundschaften im Chat gepflegt.
Die ständige Verfügbarkeit von Informationen erzieht den digitalen Kunden, der vielleicht bald fast nichts anderes mehr nutzt als das Internet. Dieses bietet immer öfter Lösungen, bevor das Problem für den Einzelnen sichtbar wird. Er entdeckt sie oder sie werden ihm zugeführt. Der auf diese Weise sozialisierte Konsument möchte immer weniger nach Informationen suchen müssen. Er will alles, worauf es ankommt, in kürzester Zeit angeboten bekommen und dabei zunehmend – auch im Netz – persönlich und individuell angesprochen werden. Wenn er nicht bekommt, was er will, kann er heute viel leichter die Bank wechseln als früher – und er ergreift diese Chance viel eher. Das ist der eigentlich entscheidende Grund für die Banken, kundenzentriert zu handeln: Schlechte Performance wird gnadenlos durch Abwanderung zu Konkurrenten (von denen es immer mehr gibt) bestraft.
Abbildung 2: Der hybride Kunde
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3  Ansatzpunkte

Wie befreien sich Banken aus dieser Situation? Wie kann der Spagat geschafft werden zwischen der neuen Generation „Head down“, die fast ausschließlich über das Handy und soziale Kanäle kommuniziert und den älteren Generationen, die für das Bankgeschäft gegenwärtig wichtig und gewinnbringend sind?
Reicht es aus, Technologie und persönliche Beratung rein aus der Kostenbrille zu betrachten und durch die Schließung von Filialen und Geschäftsstellen Kosten einzusparen? Und dazu vielleicht nur die bestehenden Produkte fortan über eine mobile Selbstbedienungsplattform verfügbar zu machen?
Mitnichten. Die Auswirkungen der Digitalisierung können nicht alleine auf die Verbreitung des Internets reduziert werden, sondern beeinflussen auch maßgeblich unsere Gesellschaft, die Art des Miteinanders und die Märkte. Dementsprechend hat sie auch Auswirkungen auf die Geschäftsprozesse und -modelle der Bank und muss dahingehend umfassender beleuchtet werden. Vor allem aber braucht es ein Umdenken in den Köpfen und einen radikalen Perspektivenwechsel.
Think big, start small, das könnte auch für die Banken gelten. Mögliche Erfolgsfaktoren der zukünftigen Unternehmensausrichtung setzen an den Punkten Strategie, Struktur und Kultur an und werden ergänzt um modernste Technologien, deren Vorhandensein die Grundlage für die derzeitige Entwicklung ist.

3.1  Strategie

„Banking is necessary, banks are not“ – dieser Satz von Bill Gates wird häufig zitiert, er bringt damit die Kernproblematik auf den Punkt. Banken müssen sich die Frage stellen, worin ihr Mehrwert für den Kunden besteht. Die Ausgangsfrage der FinTechs oder erfolgreicher digitaler Unternehmen ist immer die Frage nach dem Problem. Welches Problem des Kunden ist zu lösen? Welchen Zweck erfülle ich noch, den mein Kunde erkennt und der ihm einen echten Mehrwert bietet?

3.1.1  Was bietet die Bank?

Banken hatten und haben neben diversen anderen volkswirtschaftlichen Aufgaben auch die Funktion, Menschen mit Finanzprodukten die Absicherung vor finanziellen Risiken zu bieten, z.B. durch Altersvorsorge und finanzielle Sicherheit über den gesamten Lebenszyklus hinweg. Dies wurde in Konzepten wie Lifecycle-Banking auch immer wieder aufgegriffen. Allerdings scheitern diese im Kern guten Ansätze oft an dafür ungeeigneten Unternehmensstrukturen. Denn diese bauen auf Anreizsysteme, die den Banken nutzen, aber das Kundenbedürfnis außer Acht lassen. Sie legen CRM-Zyklusansprachen fest, die dem Salescycle der Bank entsprechen, aber nicht dem des Kunden. Kurz: Die Konzepte scheitern, weil die dafür benötigte Grundlage fehlt, die notwendigen und weiterreichenden Informationen über die Bedürfnisse, Vorhaben und Wünsche des Kunden.
Als die Filiale noch zentraler Kontaktpunkt war, konnte die Bank durch die hohe Kundenkontaktfrequenz genug Kundeninformationen zusammentragen, um passende Produkte anbieten zu können. Zudem waren Kunden mitunter auch den angebotenen Produkten gegenüber weniger misstrauisch, weil das Wort Finanzkrise nicht in aller Munde war, es keine nennbaren Skandale in der Presse gab und Produkt- und Preisvergleiche früher aufwändiger und umständlicher waren. Heute entstehen durch die Mischung aus DIY-Mentalität, Internet-Befragung, umfassender Verfügbarkeit von Informationen, Vertrauensverlust und deutlicher Verringerung der Kontaktfrequenz Herausforderungen für die Beratungssituation. Zudem hat sich die Rolle des Beraters geändert. Durch die Erosion des Expertentums ist seine Meinung nicht mehr unangefochten gültig, sondern wird hinterfragt. Kunden möchten selbst entscheiden – wer das als Berater akzeptiert hat, wird Beraten und Verkaufen zunehmend als etwas verstehen, was es schon heute ist und in Zukunft noch mehr sein wird: Coaching.

3.1.2  Die richtige Definition von Vertrauen

In den über viele Jahre gewachsenen und auf Stabilität ausgelegten IT-Strukturen sowie dem ausgeprägten Sicherheitsdenken der Banken liegt auch eine große Chance. Denn sichere IT-Architekturen, die bestmöglich vor Missbrauch von Daten durch Dritte schützen, können die Basis für neues Vertrauen in das Bankenwesen sein. Schließlich bringen die neuen Internetdienste auch zunehmend die Gefahr der missbräuchlichen Nutzung und der unerwünschten Datenspeicherung mit sich. Diesen Vorteil spielen die Banken derzeit kommunikativ noch kaum aus.
Das Vertrauen der Bankkunden in ihr Institut könnte durch die Technik in anderen Feldern auch neu definiert werden. Im englischen Sprachgebrauch gibt es die Unterscheidung zwischen Trust und Confidence. Während „Confidence“ bezogen auf das Kreditgeschäft Vertrauen in das Vergabesystem aufgrund tausendfach erprobter, festgelegter Regeln (z.B. Bonitätsprüfungen, Ratings etc.) bedeutet, kommt Trust ohne diese Regeln aus: Kreditnehmer und Banker sitzen sich gegenüber und reichen sich zum Abschluss eines Geschäftes die Hand. Man vertraut darauf, dass der jeweils andere fair und auf Grundlage gleicher Wertvorstellungen handeln wird. Confidence blickt also eher in die Vergangenheit, Trust in die Zukunft.[5] Während zu Beginn des Bankenwesens Trust dominierte (in Person persönlich haftender Banker, die bis in den Banknamen hinein gut sichtbar als vertrauenswürdige Repräsentanten der Bank wirkten), dominiert im modernen Bankenwesen das Vertrauen im Sinne der Confidence.
Allerdings wird Confidence nach der jüngsten Bankenkrise auch infrage gestellt, denn selbst beste mathematisch-ökonomische Analysesysteme konnten die Finanzkrise nicht vorhersagen. Die Schwächen sind somit offengelegt, die Angriffspunkte offensichtlich und Banken stehen vor dem Problem, im Laufe der Zeit Gefahr zu laufen, beide Arten von Vertrauen weitgehend zu verlieren.
Dies ist auch ein Grund dafür, dass die Kunden sich verstärkt technisierten Systemen zuwenden und mit neuen Playern im Markt liebäugeln. Die Wechselbereitschaft wächst, zumal sich die neuen Spieler in Auftreten und Herkunft deutlich von den etablierten Banken abheben und somit die Spielregeln neu definieren.
Die neuen Wettbewerber gleichen sich in Bezug auf den großflächigen Einsatz von modernster Technologie auch im Beratungs- und Verkaufsprozess. Sie scheuen sich nicht davor, menschliche Beratung durch virtuelle, regel- und algorithmengestützte Sequenzen zu ergänzen oder zu ersetzen. Und jede vom Kunden durchlaufene und als positiv wahrgenommene Beratungssequenz erhöht das – ja genau – Vertrauen des Kunden in diesen Prozess.
Neben der Entstehung dieser neuen technologischen Vertrauenskomponente spielen auch weiterhin direkte Kontakte von Mensch zu Mensch eine enorm wichtige Rolle – ob online oder offline. Dies gilt nicht nur für das Verhältnis zwischen Bankberater und Kunden. Auch persönliche Empfehlungen aus dem eigenen Umfeld sind in diesem Zusammenhang zu sehen. Kunden holen sich Ratschläge und Informationen aus Communities, deren Mitglieder ihnen kompetent erscheinen oder ihrem nahen Umfeld der Freunde und Familie. Das kann sich außerhalb des Einflussbereichs der Banken abspielen. Aber es wäre ungemein interessant für die Banken, zu versuchen, diese Begegnungen in der eigenen Unternehmens-Sphäre stattfinden zu lassen – offline in der Filiale, die dann eine Begegnungsstätte wäre, oder online auf einer Plattform, die nicht auf Bankgeschäft fokussiert, sondern auf das virtuelle Zusammenbringen von Leuten mit gleichen Werten und Interessen.

3.2  Struktur

3.2.1  Das Zusammenspiel der Vertriebskanäle

In Zeiten des so genannten Second Screen verlieren Aussagen wie der Ropo-Effekt (Research Online, purchase offline) immer mehr an Bedeutung. Der Kunde ist in seinem Verhalten nicht vorhersehbar, weil er auf vielen Kanälen aktiv ist. Kanäle lassen sich keinen soziodemographischen Mustern zuordnen.
Die Kritik an der mangelnden Effizienz und Nutzung der digitalen Kanäle zum Abverkauf ist weiterhin berechtigt. Allerdings liegt die Ursache nicht nur darin, dass die Kunden diese Kanäle grundsätzlich nicht nutzen möchten. Oft wird ihnen die Nutzung auch einfach unnötig erschwert. Digitales Banking ist dabei in einem größeren Kontext zu sehen als nur in der Überführung von Transaktionsprozessen ins Internet. Produkte und Prozesse sind vielfach immer noch zu stark offline gedacht und werden einfach in digitale Kanäle gepresst. Dieser Weg wird nicht funktionieren.
Die Entscheidung, welche Aufgabe der Kunde selbstständig erledigt und auf welchem Kanal der Kunde dies tut, obliegt einzig und alleine ihm. Aber die Umsetzung scheitert oft an so trivialen Sachverhalten wie der bankinternen Kundenschlüsselung, an inkonsistenten Kauf- und Check-Outprozessen wie fehlenden Abschlussstrecken beziehungsweise harten Medienbrüchen, wie Einblendung von Formularen und oder Weiterleitung zu Tarifrechnern, ohne vorher den Produktbedarf ausreichend verargumentiert zu haben. Mit intelligenterer Nutzung moderner technologischer Möglichkeiten ließen sich Finanzprodukte einfacher und kundenfreundlicher platzieren und erläutern. Gute Sales-Stories sind in digitaler Form abbildbar, entsprechen dem hybriden Nutzungsverhalten und sind zudem ein möglicher Ausweg aus der Internet-Discount-Falle.
Dies mag der Grund dafür sein, warum immer noch gilt: Eine erfolgreiche Offline-Kundenansprache führt zu einem Abschluss, der zu 92% ebenfalls offline erfolgt. Lediglich in 8% der Fälle wird der Kaufabschluss online getätigt. Erfolgte die Kundenansprache online, bleiben jedoch nur 59% dem Kanal treu. 41% wechseln zu einem Offline-Kanal. Aber auch in dieser Studie werden die Ergebnisse mit dem Argument begründet, dass im Internet nach wie vor gute und komfortable Möglichkeiten zum Abschluss fehlen.[6]
Hier sollte das Umdenken in Richtung einer neuen Arbeitsteilung ansetzen. Während früher für die meisten Aktivitäten der Berater in der Geschäftsstelle benötigt wurde, wird er zukünftig nur noch für die komplexen Aufgabenstellungen und am Ende der Beratungsprozesskette gefordert sein.
Das eröffnet auch Chancen. Am Ende eines komplexen Informationsprozesses zum Immobilienkauf noch den Vorteil eines Expertengespräches liefern zu können, kann zu einem Differenzierungsmerkmal werden, das der Kunde als positiven Mehrwert empfindet. Komplexere Produkte werden im Netz weniger nachgefragt, da sie einen deutlich erhöhten Beratungsbedarf erfordern. Allerdings könnten auch hier viele Routineprozesse bereits durch den Kunden selbst und ohne Berater durchlaufen werden, inkl. Uploads von notwendigen Dokumenten z.B. in der Immobilienfinanzierung. Der Berater ist dann das letzte und abschließende Glied in der Kette und fungiert nun als eine Art Prozesshelfer, der nur noch bei Lücken oder Fehlern aktiv wird und nicht mehr einen Großteil seiner Beratungszeit mit Routineaufgabenverbringt.

3.2.2  Die Rolle der Filiale

Kunden unterscheiden sich hinsichtlich ihres finanziellen Hintergrundes, ihrer Bedürfnisse, ihres Risikoverhalten, ihrer Denkweise und ihrer Entscheidungsfindung in Geldfragen. Auf diese unterschiedlichen Ausgangssituationen muss eingegangen werden. Früher wurden dafür die Filialen genutzt.
Für das Alltagsgeschäft brauchen die meisten Kundengruppen die Filiale und den persönlichen Kontakt jedoch nicht mehr. Jedoch sind Filialen samt Personal noch genau dafür konzipiert und aufgebaut. Den Herausforderungen der digitalen Welt werden diese Strukturen nicht mehr gerecht. In einem Multikanal-Umfeld und mit neuen Gewohnheiten der Kunden werden die Filialen nun auf den Prüfstand gestellt, denn die Kunden stimmen schon heute „mit den Füßen“ ab – sie betreten immer seltener eine Filiale, um ihre Transaktionen abzuwickeln. Wie sich bereits abzeichnet, werden Banken in Zukunft weniger und kleinere Filialen betreiben, mit Hauptschwerpunkt auf Beratung und Stärkung der Markenidentität.
Zudem werden sie neue Technologien und andere, innovativere Formate nutzen. Die Transformation wird weder schnell gehen, noch einfach sein. Die Reduzierung der Filialgrößen und die Schließung von Filialen erfordert genaues Wissen über Kundenanforderungen und Kundenzahlen sowie eine gute Planung verfügbarer Kapazitäten. Zudem müssen die Mitarbeiter mehrfach qualifiziert und Experten für komplexe Themen (wahrscheinlich nicht mehr dezentral) bereitgestellt werden.
Diese neue Form der Filialen könnte bei entsprechender Akzeptanz durch die Kunden dazu führen, dass es selbst für klassische Internet- und Direktbanken sinnvoll wird, vereinzelte Kontaktcenter aufbauen, um ihren Kunden auch eine physische Kontaktmöglichkeit zu bieten. Internet-Unternehmen wie Amazon oder Apple zeigen mit ihren Flagship Store-Konzepten, wie eine intelligente Verbindung zwischen Offline- und Online aussehen kann. Auch einige Banken folgen diesem erlebnisorientierten Konzept der veränderten Kundenansprache.
Gerade in ländlichen Gebieten hat die Filiale jedoch noch eine soziale Funktion als Treffpunkt und Begegnungsstätte. Dieser Vorteil könnte künftig weiter ausgespielt werden, etwa durch Veranstaltungen, bei denen die Anwohner in gleichem Maße Informationen und soziale Interaktion finden. Filialen könnten zu einem Ort werden, an dem regionale Fragestellungen erörtert werden und an dem sich Menschen begegnen und austauschen, die gleiche Interessen und Werte im politisch-ökonomischen Bereich haben.

3.3  Kultur

3.3.1  Die veränderte Rolle des Beraters

Auch wenn nach außen vieles unter dem Stichwort Beratung läuft, so sind doch wesentliche Teile des Beratungsalltags geprägt von Tätigkeiten, die mit sichtbarem Kundennutzen nichts oder nur wenig zu tun haben. Dazu gehören nicht nur Prozeduren aufgrund regulatorischer Anforderungen sondern auch administrative Tätigkeiten wie z.B. die Datenaufnahme. Im Zuge der zunehmenden Technisierung werden viele Abläufe und Produkte standardisiert und können automatisiert werden. Welche Rolle spielt der Berater dann aber zukünftig und vor allem, welchen Kundennutzen liefert er?
Die Fähigkeit zur korrekten Informationsweitergabe und der Informationsvorsprung werden den Berater zukünftig (aufrgund der erwähnten Erosion des Expertentums in Kombination mit der zunehmenden Verfügbarkeit von Fachinformationen) nicht mehr ausreichend qualifizieren. Der Kunde ist heute durch das Internet und über neue digitale Zugänge in der Lage, eine große Menge der für ihn relevanten Informationen selbst zusammenzutragen. Dies ist auch im Sinne der Banken selbst, die über Onlinebanking-Angebote Kostenentlastungen in den Filialen erreichen.
Durch die Verlagerung der Prozesse auf den Kunden muss der Berater ein neues Rollenverständnis entwickeln. Er überträgt einen Handlungsbereich an den Kunden, verliert einen Teilbereich des Handlungsspielraumes an Technologie und muss den bei ihm verbleibenden Teil als Hauptaufgabe akzeptieren und ausgestalten. Diese neue Rolle ähnelt jetzt eher der eines Coaches, der die Ziele des Kunden kennt und seine „Fitness“ in Bezug auf finanzielle Fragestellungen und den beobachteten Handlungen des Kunden abgleicht. Wenn der Kunde es einfordert, kann er auch auf Widersprüche hinweisen oder über Unsicherheiten hinweg helfen. Ein wesentliches Merkmal dieses Coachings wäre zudem, dass es zunehmend mit einem Technologieeinsatz kombiniert wird, der über Regeln und Algorithmen auf Basis von relevanten, digital vorliegenden Kundendaten erfolgen wird. Das Ergebnis sind konkrete Handlungsempfehlungen.
Diese Empfehlungen werden künftig häufiger eine bessere Qualität haben als früher. Die Aufgabe des Beraters kann hier zum Beispiel das Schaffen von Transparenz sein, also das Erklären des Zwecks und der Inhalte der automatischen Vorgänge sowie der dahinterliegenden Regeln.
Die Berater müssen dafür künftig neue Kompetenzen erwerben. Der reine Verkäufer rückt in den Hintergrund. Neben Fach-, Beratungs-, Methoden- und Sozialkompetenz braucht es künftig auch zunehmend Kompetenz für digitale Zusammenhänge. Es wird immer schwieriger werden, in einer einzigen Person die Kompetenzen, die für jeden einzelnen Kunden notwendig sind, zu vereinen. Denkbar ist, dass sich seine Rolle eher in Richtung des Relationship-Managers und Coaches entwickelt, der mit Hilfe digitaler Technologien Impulse erhält, bei Bedarf zur Verfügung steht und sich mittels technologischer Hilfsmittel Experten zu Hilfe holt.

3.3.2  Die veränderte Rolle des Kunden

Heutige Kunden sind Prosumenten, die nicht nur konsumieren, sondern auch mitgestalten möchten. Der Kunde ist es längst gewohnt, einen Teil der Prozesse innerhalb der Wertschöpfungskette selbst in die Hand zu nehmen, beispielsweise bei Reisevorbereitungen mit Hotel- und Transportmittelbuchungen. Im Gegenteil zum passiven Konsumenten entspricht diese Vorgehensweise sogar seinem immer stärker ausgeprägten Wunsch nach Mitbestimmung und Verstehen.
„The age of the customer“ hat längst begonnen. Das Timing für den Kundenkontakt über die verschiedenen digitalen Kanäle bestimmt nicht länger zwangsläufig die Bank, sondern er geht häufig von einem Impuls des Kunden aus. Dabei ist der Kunde heute in seinem Verhalten heute weniger berechenbar, weniger loyal gegenüber den Banken und wechselhaft in seinen Entscheidungen. Früher geltende soziodemographische Muster verlieren ihre Relevanz.
Wenn Kunden mit den Finanzhäusern in Kontakt treten, sind sie meist bereits gut informiert, treten selbstbewusst auf und haben ein klares Anliegen, das sich möglicherweise nur selten mit den CRM-generierten Verkaufsvorgaben überschneiden dürfte.
Hybride Konsumenten möchten sowohl umfassende Informationen, Selbstbedienungsfunktionen als auch persönliche Beratung. Kunden wollen Antworten auf Fragen – diese immer an oft langwierige und in der Zukunft liegende Termine in Filialen zu koppeln, scheint nicht sinnvoll und entspricht nicht mehr den Gewohnheiten in der digitalen Echtzeit-Welt. Denn wie bereits beschrieben, betreten immer weniger Kunden überhaupt noch eine Filiale.
Abbildung 3: Herausforderung der Digitalisierung: die Entkoppelung im Vertriebsprozess
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3.4  Technologie

Die Barclays Bank macht es vor. Sie bezeichnet sich selbst als eine „technological company offering financial services“. Dieses Selbstverständnis einer Bank zeigt den Wandel und die neue Rolle der Technologie. Sie ist nicht in einer Abteilung abgekapselt und dient nur zur Bereitstellung der eigentlichen Dienstleistung, sondern ist die zentrale Grundlage für die Wertschöpfung, der Dreh- und Angelpunkt und am Kunden-Frontend für das positive Banking-Erlebnis des Kunden zuständig.
Im technologischen Fortschritt liegt die Triebfeder der Veränderungen des Bankings. Digitale Vertriebskanäle haben das Angebot der immateriellen, leicht kopierbaren und über digitale Medien mit vergleichsweise geringem Aufwand zu vertreibende Bankleistungen deutlich verändert. Technologie ist nicht einfach der Bereich, der das Angebot der Bankdienstleistung ermöglicht, verschlankt, rechtssicherer oder effizienter bewerkstelligt, sondern ein großer Teil der Daseinsberechtigung der Angebote wird zukünftig durch Technologie begründet.
Für die Barclays Bank steht eine skalierbare IT im Zentrum all ihrer Aktivitäten. Von diesem Erfolgsmodell kann man lernen.

3.4.1  Die veränderte Rolle der IT

Der neuen Rolle des Kunden und der neuen Bedeutung, die Technologie zukünftig bekommen wird, entsprechend, müssen Prozesse in Banken neu ausgerichtet werden. Bei dieser Neuausrichtung ist unbedingt zu beachten, dass diese Prozesse vom Kunden her gedacht werden. Dafür müssen zunächst die Kernprozesse des Unternehmens tatsächlich auf den Kunden ausgerichtet werden, was auch bedeutet, dass IT-Strukturen nicht allein aus Kosten- und Effizienzgesichtspunkten betrachtet werden. Dies erfordert in hohem Maße Flexibilität und Skalierbarkeit. Denn wenn Prozesse nicht mehr so gestaltet werden, dass sie am besten zu den internen Strukturen der Bank passen, sondern so, wie sie am besten dem Verhalten des Kunden entsprechen, dann müssen sie auch die Sprunghaftigkeit des Kunden berücksichtigen. Die IT spielt nicht mehr eine primär intern wirkende, prozessunterstützende Rolle wie im klassischen Bankprozessverständnis, sondern wird zum zentralen Element in Richtung Kunde, also extern. Offene Schnittstellen und eine generelle Öffnung der Strukturen sind nötig, um neue externe und bankeigene Anwendungen an das vorhandene System anzubinden und so in punkto Schnelligkeit zu gewinnen. In der von Gartner und anderen führenden Technologie-Forschungsunternehmen forcierten „IT der zwei Geschwindigkeiten“ liegt hierbei eine Chance für die Banken. Die Systematik ist eine Antwort darauf, mit der erhöhten Geschwindigkeit der Digitalisierung, den rechtlichen Anforderungen und gleichzeitig mit den Bedürfnissen der hybriden Kunden zurechtzukommen. Da sich die Anforderungen im Backoffice nicht so schnell ändern wie die des Marktes, sollte dieser als stabiler Kern unangetastet bleiben, um die Integrität der internen Prozesse nicht zu gefährden. Darüber wird ein agiler „Layer“ gespannt, der die markt- und kundennahen Prozesse abbildet. So kann auf die unterschiedlichen Anforderungen eingegangen werden, die je nach Blickrichtung (interne/externe Ausrichtung) entstehen. Um Interoperabilität und Systemstabilität sicher zu stellen, wird die Kern-IT so in größeren Abständen aktualisiert, während neue Anwendungen beispielsweise über eine Middleware -Plattform, Layer und APIs angebunden werden.
IT ist in der beschriebenen Gesamtproblematik nicht gleichzusetzen mit Digitalisierung, da die Digitalisierung mit neuen Handlungs- und Denkmustern einhergeht und weit mehr bedeutet als nur die Einführung offener Schnittstellen.

3.4.2  API und offene Architekturen

Marc Andreesen hat vor über zehn Jahren bereits sehr treffend die veränderte Sicht auf Technologie beschrieben. „Software is eating the world“ beschreibt die Rolle der IT, die nicht abgekapselt zu verstehen ist. [7]
Vielmehr dringt Technologisierung und Digitalisierung in jeden Bereich unseres Lebens ein und verändert es zum Teil maßgeblich. Die Kunden nehmen Apps, die sie bequem über ihr Smartphone nutzen können, als Instrumente zur Erleichterung ihres Alltags wahr. Hier können Banken ansetzen. APIs werden diese Entwicklung beschleunigen.[8]
Für Banken bietet sich mit dieser Entwicklung die Chance auf die veränderten Kundenbedürfnisse zu reagieren. Credit Agricole hat bereits in 2013 APIs angeboten und sich für Co-Creation geöffnet, daraus sind diverse nützliche Applikationen entstanden. Auch die Fidor Bank hat mit dem Pirate Banking-Tag diesen Weg eingeschlagen.[9]
Die möglichen Vorteile des API-Bankings liegen vor allem in den Bereichen Innovationsgeschwindigkeit und Flexibilität. Es bietet die Möglichkeit, die wartungsintensiven Bestands- und Legacy-Systeme über Middleware-Plattformen von den Bereichen zu trennen, die für die Kundeninteraktion essentiell sind. So erreichen Banken trotz der alten Bestandssysteme und einer eher monolithischen Architektur mit diesen Schichtenmodellen eine technologische Ausgangsbasis, um den Kundenanforderungen der digitalisierten Kunden zu entsprechen. Sie liefert außerdem die Grundlage für ein offenes System, das viel stärker die Prinzipien der Community berücksichtigt, als Banken dies bisher tun.
Diese Tendenz findet sich aber nicht nur in der IT der zwei Geschwindigkeiten, wie bereits beschrieben. Agilere Entwicklungsmethoden und Vorgehensmodelle bei der Durchführung von IT-Projekten gehören ebenfalls dazu, da das eine nicht ohne das andere funktioniert. Sie ermöglichen es, flexibel auf Anpassungen zu reagieren, die im Kunden-Frontend notwendig werden und damit schnellere Reaktionszeiten erfordern. Denn auch ein zu zögerliches Anpassungsverhalten im Appstore kann tödlich sein – es reicht nicht, nur einmal eine App zu programmieren und damit nach außen Modernität zu demonstrieren. Vielmehr müssen auch diese Technik-Versprechen dauerhaft gehalten und die User-Community gepflegt werden.

3.4.3  Algo-Banking

Die IT der zwei Geschwindigkeiten, moderne und agile Entwicklungsformen, APIs und offene Architekturen bilden gemeinsam die Grundlage für ein Element des Bankings, dem große Zukunftschancen zugeschrieben werden: Algo-Banking. Dabei sorgen ausgefeilte Algorithmen für ein besseres Matching von Kunde und Produkt, Angebot und Nachfrage werden treffsicherer zusammengeführt. Dies funktioniert nicht nur im Kreditbereich, sondern auch in der Beratung und Vermittlung. Hier ist jedoch zu beachten, dass auch im Banking die gleichen Regeln gelten wie für den Einsatz von Algorithmen auf Handelsplattformen, im Targeting oder E-Commerce: Eine geringe Fehleranfälligkeit, verbunden mit hoher Transparenz sind Schlüsselfaktoren für den Erfolg. Die Frage, wie Algorithmen zu dem Ergebnis kommen, trägt entscheidend zur Vertrauensbildung bei – sowohl bei den Kunden, als auch bei den Beratern.