Oliver Everling  Robert Lempka (Hg.)

Finanzdienstleister
der nächsten Generation

Die neue digitale Macht der Kunden

 
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Konvertierung in ePub: mediaTEXT Jena GmbH
ISBN (Print): 978-3-940913-62-3
ISBN (PDF): 978-3-940913-75-3
ISBN (ePub): 978-3-940913-76-0
1. Auflage 2013  © Frankfurt School Verlag GmbH, Sonnemannstraße 9-11, 60314 Frankfurt am Main

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort
Vorwort
Finanzwelt im Umbruch
Megatrend Next Generation Finance
Robert Lempka/Thomas Winkler/Marc P. Bernegger
Denken in Generationen: methodische Betrachtungen eines Zukunftsforschers zur nächsten Generation
Andreas M. Walker
Demografische Herausforderungen für die private Geldanlage
Roland Klaus
Paradigmenwechsel im Banking
Mirko Schiefelbein/Holger Friedrich
Hilfe, ich bin eine Großbank, holt mich hier raus!
Matthias Lamberti
Finanzdienstleister der nächsten Generation
Hendrik Leber
Bank 2.0 – von der Vision zur Software
Richard Dratva
Ende einer Ära oder Beginn eines neuen Zeitalters? Wie neue digitale Kunden das Banking verändern
Karl Matthäus Schmidt
Demokratisierung der Finanzbranche
Sarah Brylewski
Digitale Revolution in Vertrieb und Kommunikation
Auf dem Weg zur Kundenzentrierung: neue Chancen durch digitale Medien
Jürgen Moormann/Elisabeth Z. Palvölgyi
Kundenzentrierte Vertriebsarchitektur
Stefanie Auge-Dickhut/Bernhard Koye/Axel Liebetrau
Omnikanal-Banking
Hans-Gert Penzel/Anja Peters
Vertrieb in Retailbanken 2015 – vollständige Digitalisierung mit menschlicher Note
Radboud Vlaar/Philipp Siebelt
Wie Kunden und Berater gemeinsam vom Web 3.0 profitieren – ein interaktives Kundenportal als Beispiel für Service-Design bei Banken, Versicherungen und Makler
Jochen Weber
Kommunikation als strategischer Erfolgsfaktor
Torsten Paßmann
Bankstrategie: Wie viel Social Media braucht die Bank?
Lothar Lochmaier
Social-Media-Marketing in der Bankenwelt – Hoffnungsfeld vergebener Potenziale
Hans Fischer
How P2P Social Banking can fix the Future of Finance
Morten Lund/Alexander Haislip
Kunden an die Macht: neue Geschäftsmodelle
Persönliches Finanzmanagement: neuer Trend im Retailbanking
Hansjörg Leichsenring
Neue Generation der Vermögensverwalter
Benjamin Manz
Risikoprofiling – online, transparent und unabhängig
Monika Müller
New Kids on the Block – Financial Aggregators
Ivo Streiff
Einfluss der Social-Media-Analyse auf den Aktienmarkt
Jonas Krauß/Stefan Nann
Wertpapierhandel im Kontext des technologischen Wandels – der algorithmische Handel
Peter Gomber/Kai Zimmermann
Nachhaltigkeitsbanken – ein Geschäftsmodell mit Zukunft
Georg Schürmann
Corporate Crowdfunding
Dirk Elsner
Crowdfunding als genossenschaftliches Prinzip
Boris Janek
Autorenverzeichnis

Geleitwort

Politiker stehen nicht in dem Ruf, verlässliche Prognosen abzugeben. Die Politik seit Ausbruch der Finanzkrise, die in der von den USA ausgehenden Subprime-Krise wurzelte, über Bankenrettungen bis zu Rettungsschirmen für ganze Staaten reichte, lässt aber eine sichere Prognose zu: Finanzdienstleister der Zukunft werden sich veränderten Rahmenbedingungen gegenübersehen, an sowohl (aufsichts-)rechtlich als auch wirtschaftlich veränderten Eckpunkten ihre Strategien ausrichten müssen.
Die Finanzkrise machte sowohl Versäumnisse der Bankenaufsicht offenkundig als auch das obsolete Geschäftsmodell von Staatsbanken deutlich. Die internationale Koordination der Aufsicht über Finanzdienstleister stand ebenso in der Kritik wie das wenig ursachenbezogene (Re-)Agieren der Politik. Für diese Kritik bedarf es nicht erst des Blickes über die Grenzen in den Süden Europas, sondern auch in Deutschland werden Ursachen und Wirkungen verdreht, wenn in immer mehr staatlichen Eingriffen in den Finanzsektor, in einem immer enger geschnürten Korsett oder gar in der Verstaatlichung von Banken Heilmittel gesucht werden.
Die Finanzkrise schwappte von den USA ungebremst nach Europa hinüber. Die Finanzdienstleistungsaufsicht erwies sich als hilflos, ihrer Aufgabe nachzukommen, die Stabilität des Finanzwesens zu garantieren. Eine Vielzahl von Gesetzeswerken wurde daher auf den Weg gebracht, um den historisch einmaligen Herausforderungen aus dem Finanzsektor zu begegnen.
Die aus den politischen Wertungen folgenden Regulierungen für Finanzdienstleister treffen diese in einer Situation, in der sie ohnehin schon vor bisher ungekannte Herausforderungen gestellt werden. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien hinterlassen im Bankwesen heute deutlichere Spuren als je zuvor.
Das Bank- und Versicherungswesen hat in Deutschland zwar schon mindestens ein halbes Jahrhundert der Rationalisierung und Konsolidierung hinter sich, wenn man dies z.B. an der großen Anzahl der noch viele Tausende zählenden Institute bis in die 1970er Jahre misst. Die von den Möglichkeiten des Computers getriebenen bankinternen Rationalisierungsprojekte zielten zumeist auf Effizienzsteigerung, Kostensenkung und Serviceverbesserung durch schnellere Abwicklung, weniger jedoch auf die Schnittstelle zum Kunden. Diese war (und ist) zu einem großen Teil noch vom persönlichen Kontakt sowie von Papier und Kugelschreiber geprägt.
Insbesondere Banken befinden sich heute inmitten einer digitalen Revolution, da nun auch die Verbindung zum Kunden zu einer rein digitalen zu werden droht. Wenn fast jeder Teenager oder Twen ein Smartphone mit sich trägt, könnte sich die Wahrnehmung von Finanzdienstleistungen auf Apps reduzieren – mit vorhersehbaren Folgen für die Kunde-Bank-Beziehung.
Inzwischen ist eine neue Generation von Bankkunden herangewachsen, für die Internet und Social Media Selbstverständlichkeiten sind. Einst mächtige Bankhäuser werden ins Wanken gebracht, da sie gleich mehrfach unter Druck gesetzt werden: Interner Rationalisierungszwang, externer Druck durch Regulierung, zugleich Wegbrechen alter Ertragsfelder und Erosion von Marktpositionen zugunsten neuer Wettbewerber sind nur einige Schlagworte aus einer Fülle von Aspekten, mit denen sich die Konkurrenzsituation neu darstellt.
Die derzeitige Geldschwemme zur Bewältigung der Krise führt zu einer Niedrigzinsphase, die jüngst auch noch den Ruf nach Re-Regulierung der Sollzinsen von Banken ertönen lässt, um Banken zu zwingen, niedrige Zinsen auch an ihre Kunden weiterzugeben. Dies würde einen Rückfall in längst überwundene Zeiten bedeuten.
Gut gemeinte Eingriffe in die Preisbildung des Marktes können kaum auf Dauer zur volkswirtschaftlich sinnvollen Allokation von Ressourcen führen. Die innovativen Geschäftsmodelle, die in diesem Buch aufgezeigt werden, zeigen einen marktwirtschaftlicheren Weg auf, Kunden optimal zu günstigsten Konditionen zu bedienen: Indem neue Wettbewerber mit technologiebedingt völlig veränderten Kostenstrukturen in den Markt eintreten, wird nicht nur die Konkurrenz um die Gunst des Kunden erhöht, sondern auch der in der Nachfrage konkretisierte Bedarf besser befriedigt.
Es ist das Verdienst der Herausgeber des vorliegenden Buches, einen Kreis von Autoren zusammengebracht zu haben, die aus unterschiedlichen Perspektiven und Aufgabenstellungen die Frage nach den Finanzdienstleistern der nächsten Generation zu beantworten suchen.
Frank Schäffler, MdB

Vorwort

In diesem Buch geht es um die Darstellung von Trends in der Finanzbranche sowie die Vorstellung von neuen Geschäftsmodellen, ermöglicht durch die digitale Revolution und die damit einhergehende Stärkung des Kunden. Es werden Anpassungsprozesse und Veränderungen aufgezeigt, die der Finanzbranche nicht nur durch die Möglichkeiten des Internets bevorstehen, sondern auch durch den Einsatz einer Vielzahl unterschiedlicher Endgeräte, mit denen die Bankkunden von einst zukünftig mit ihren Finanzdienstleistern kommunizieren werden. Indem der Titel auf die Sicht von Investoren bzw. Entscheidern abstellt, wird dem Leser ein Herausgeberwerk geboten, das zwar wissenschaftlich fundiert ist, aber eher als praxisorientiertes Kompendium mit konkretem Nutzen für die Betroffenen Verwendung finden wird.
Somit werden sowohl Leser aus der Internet- und Finanzbranche, Banker und andere Finanzdienstleister angesprochen, als auch Ratingagenturen, Venture Capitalists, Seed Financiers, Business Angels, Investoren, Consultants, Headhunter, Wissenschaftler und Wirtschaftsjournalisten.
Das Internet und die digitale Revolution haben Gesellschaft und Wirtschaft in einem geschichtlich beispiellosen Ausmaß verändert. Nachdem sich Branchen wie das Verlagswesen oder der Handel dadurch in den letzten Jahren teilweise fundamental umorientiert haben, hinkt die Finanzbranche dieser Entwicklung immer noch hinterher. Das Buch zeigt auf, in welcher Weise sich nun auch die Finanzbranche wandelt und welche neuen Geschäftsmodelle und Möglichkeiten dadurch entstehen.
Mit dem „Web 2.0“ wurde das Internet durch eine Reihe interaktiver und kollaborativer Elemente angereichert, die Kundenbeurteilungen und Erfahrungsberichte für fast jedes Produkt verfügbar machten. Der Nutzer konsumiert nicht mehr nur den Inhalt, er stellt als „Prosument“ selbst Inhalt zur Verfügung. So waren auch Rankings, Scorings und Ratings im Finanzsektor bisher eine Domäne der Medien, der Researchabteilungen von Banken oder anerkannter Ratingagenturen. Neben Kaufempfehlungen von Finanzdienstleistern und Werbung von Banken drängen sich nun zunehmend auch die Erfahrungsberichte von Anlegern bzw. Bankkunden auf. Dies alles erlaubt eine „Demokratisierung“ des Finanzwesens in bisher unbekanntem Ausmaß, da sich jedermann über nahezu alle relevanten Aspekte seiner finanziellen Entscheidungen ungehindert informieren kann und nicht länger auf karge Inhalte von Werbebotschaften oder das formaljuristisch korrekte Kleingedruckte angewiesen ist.
Das Buch zeigt erstmals nicht nur die unmittelbaren Konsequenzen der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien auf Arbeitsabläufe, Dienstleistungsprozesse und Effizienzsteigerung auf. Es beleuchtet auch die indirekten Auswirkungen, z.B. die inhaltlichen Veränderungen in der Kommunikation zwischen Finanzdienstleistern und Kunden durch Social Media wie Twitter, Blogs und Polltracker. Als Herausgeberwerk lässt es die maßgeblichen Akteure, Investoren, Banken und sonstige Finanzdienstleister, Autoren aus Praxis und Wissenschaft zu Wort kommen.
In Form eines Herausgeberbands ist dieses Buch das erste seiner Art und bietet den mitwirkenden Autoren Gelegenheit, ihre Perspektiven, Beurteilungsansätze, Voraussetzungen, Prozesse, Anforderungen und Erwartungen einem breiteren Fachpublikum zu vermitteln. Die Börsen degradieren angesichts des immensen Strukturwandels in der Finanzbranche selbst manche Aktien ehemals großer Banken zu „Penny Stocks“ und erschüttern sogar das Vertrauen in die Nachhaltigkeit der Ertragskraft von Banken, die ihren überholten Geschäftsmodellen verhaftet bleiben. Das Werk liefert einen strukturierten Überblick über die Möglichkeiten, die aktuellen Herausforderungen nicht nur anzunehmen, sondern auch davon zu profitieren: Es hilft, die erfolgversprechendsten Finanzdienstleister – und damit auch Investments – der nächsten Generation zu identifizieren.
Dem Frankfurt School Verlag danken wir für den Auftrag, dieses Buch herauszugeben, das wohl kaum in einem anderen Verlag eine bessere „Heimat“ gefunden hätte. Die Nähe zur Hochschule und damit zur „nächsten Generation“ sowie die Nähe zum Finanzplatz Frankfurt und damit zu den Entscheidern der Finanzbranche passen zu unserem Buchtitel. Für die gute Zusammenarbeit danken wir recht freundlich Herrn Ulrich Martin (Konferenzleitung) sowie Frau Mechthild Eckes (Redaktion) aus dem Frankfurt School Verlag. Nicht zuletzt gilt unser Dank natürlich unseren Autoren, die mit erstaunlicher Termintreue ihre fachlichen Beiträge ablieferten, wohl eingedenk der Aktualität unserer Thematik.
Frankfurt am Main, Oktober 2012 Dr. Oliver Everling
Robert Lempka


Finanzwelt im Umbruch

Megatrend Next Generation Finance

Robert Lempka/Thomas Winkler/Marc P. Bernegger
 
1  
Einleitung
1.1  
Fundamentale Veränderungen der Wirtschaft
1.2  
Technologischer Fortschritt und Internet als Auslöser dieser Veränderungen
1.3  
Demokratisierung der Finanzindustrie
1.4  
Investitionen in das Segment Finance 2.0
2  
Beispiele von neuen Geschäftsmodellen in der Finanzindustrie
2.1  
Personal Finance Management: mint (www.mint.com)
2.2  
Crowdfunding: c-crowd (www.c-crowd.com)
2.3  
Peer-to-Peer Lending: Zopa (www.zopa.com) oder Prosper (www.prosper.com) oder Smava (www.smava.de)
2.4  
Community Banking: Fidor Bank (www.fidor.de)
3  
Ausblick
3.1  
Next Generation Finance als Megatrend

1  Einleitung

Das Internet und die digitale Revolution haben Gesellschaft und Wirtschaft in einem Ausmaß verändert, wie es in der Form in der Geschichte bisher nur sehr selten passiert ist. Ursprünglich zur Vernetzung von Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen vom US-Verteidigungsministerium initiiert[1], hat sich das Internet innerhalb von nur wenigen Jahren zu einem weltumspannenden Netzwerk entwickelt. In einem schier grenzenlosen Wachstum verschmelzen heute virtuelle mit realen Welten und es ist noch nicht absehbar, in welche Richtung die digitale Revolution führen wird. Mit der Verbindung digitaler Inhalte und mobiler Kommunikation (Stichwort „Smartphones“ wie z.B. das iPhone von Apple) haben Milliarden von Menschen von überall auf der Welt erstmals Zugang zu den gleichen Informationen, was einen noch nie dagewesenen Zustand darstellt.[2]

1.1  Fundamentale Veränderungen der Wirtschaft

Auch die Wirtschaft blieb von diesen Entwicklungen nicht unberührt und noch nie fanden in der Geschäftswelt so schnell so viele fundamentale Veränderungen statt wie heute. Berufsbilder, die es vor zehn Jahren noch gar nicht gegeben hat, sind heute aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Andere Tätigkeiten dagegen, die über Generationen existiert haben, sind teilweise komplett verschwunden. Gleichzeitig haben technologische Entwicklungen dazu geführt, dass Unternehmen aus dem Nichts entstanden sind, mit Produkten, die vor kurzem noch gar nicht existiert haben. Sie setzen Milliarden um und sind innerhalb weniger Jahre zu global agierenden Konzernen geworden. Der Internet-Konzern Google beispielsweise wurde erst vor 14 Jahren von zwei Studenten gegründet. Heute gehört Google zu den größten Unternehmen der Welt[3], beschäftigt mehr als 33 000 Mitarbeiter und hat im 2011 bei einem Gewinn von mehr als 11 Milliarden USD knapp 38 Milliarden USD Umsatz erzielt.[4]

1.2  Technologischer Fortschritt und Internet als Auslöser dieser Veränderungen

Durch die technologischen Fortschritte sind die Eintrittshürden zu neuen Geschäftsmodellen viel niedriger als je zuvor, was viele Innovationen und neue Startups hervorgebracht hat. Das Internet hat dadurch in den letzten Jahren Branchen wie z.B. das Verlagswesen oder den Handel komplett verändert und neben Google diverse andere globale Konzerne wie eBay oder Amazon hervorgebracht. Es ist offensichtlich, dass, wenn auch um einige Jahre verzögert, nun auch der Finanzindustrie fundamentale Anpassungen bevorstehen, die bestehende Wertschöpfungsketten verändern werden. Dieser Megatrend steht noch ganz am Anfang und wird die Finanzindustrie über viele Jahre prägen.
Auslöser und Treiber für diese Veränderungen sind u.a.

1.3  Demokratisierung der Finanzindustrie

Wie bereits in anderen Branchen vor einigen Jahren geschehen, führen die durch die digitale Revolution ausgelösten Veränderungen zu einer „Demokratisierung“ der traditionellen Geschäftswelt, in unserem Beispiel also der Finanzbranche: Interaktion finden nicht mehr nur direkt zwischen Finanzinstituten und ihren Kunden, sondern vermehrt auch zwischen den Kunden untereinander statt (Stichwort „Social Banking“). Insbesondere die durch Social Networks wie z.B. Twitter und Facebook neu entstandenen Interaktionsformen führen dazu, dass man als Anbieter einer Dienstleistung den Dialog (heute eigentlich passender: den Monolog) mit dem Endkonsumenten nicht mehr selber steuern kann und diese neuen Möglichkeiten der Interaktion erhalten. Bis heute haben nur ganz wenige Finanzinstitute auf diese Veränderungen reagiert und viele scheuen vor allem die möglichen Risiken einer solchen Öffnung des Informationsaustausches von einer Einweg- zu einer Mehrweg-Kommunikation.[5] Social-Media-Aktivitäten werden im Banking, wenn überhaupt, immer noch sehr zurückhaltend eingesetzt und häufig stellen diese eine reine Alibi-Übung dar.[6] Mit dem Blick auf andere Industrien ist es aber nur eine Frage der Zeit, bis sich auch die Finanzindustrie dieser Entwicklung stellen muss und das Internet auch hier zu einer Demokratisierung und mehr Transparenz sorgen wird.[7]

1.4  Investitionen in das Segment Finance 2.0

Es erstaunt, dass trotz der enormen Möglichkeiten erst wenige Investoren internet-basierte Geschäftsmodelle in der Finanzindustrie für sich entdeckt haben. Das Thema „Finance 2.0“ scheint auf der Investitionsseite noch nicht die Bedeutung erlangt zu haben, die das Potenzial in diesem Segment vermuten lässt. Insbesondere in der Frühphasen-Finanzierung (Seed, Venture, Early Stage) bewegen sich in Europa nur eine Handvoll Business Angels und abgesehen von der an der Berner Börse notierten Beteiligungsgesellschaft Next Generation Finance Invest (www.nextgfi.com) gibt es keinen institutionellen Investor mit einem dezidierten Fokus auf diese Nische.
Dies bestätigt auch der erfolgreiche Frühphasen-Investor und Mehrfach-Unternehmer (u.a. studiVZ und Rebate Networks) Michael Brehm:[8]
„Michael Brehm, Du bist einer der erfolgreichsten Business Angels in Europa und einer der wenigen, die auch im Segment Internet & Finance investieren. Was sind denn aus Deiner Sicht die Gründe dafür, dass sich erst sehr wenige Investoren in diesem Segment bewegen?“
„Für die Möglichkeiten und die Umwälzungen, die zurzeit stattfinden, könnten sicher deutlich mehr Investoren aktiv sein. Das Feld ist oft viel komplexer zu verstehen als eine E-Commerce-Seite und leider auch in manchen Bereichen hoch reglementiert. Die Zulassungsprozesse ziehen sich manchmal sehr in die Länge und sind gerade für Start-ups sehr schmerzlich.“
„Und was bewegt Dich selber dazu, als Investor im Segment ‚Finance 2.0‘ aktiv zu werden?“
„Seit meinem Studium bin ich dort vorbelastet. Einer meiner Schwerpunkte war Finance an der WHU, ich bin im Beirat des Campus for Finance und habe in einer Investmentbank mein Berufsleben gestartet. Durch den Bedarf an Veränderung im Finanzwesen ergeben sich hier ungeahnte unternehmerische Möglichkeiten. Daran mitzuwirken macht mir große Freude.“
„Wie wird sich Deiner Meinung nach die Finanzwelt in der nächsten Zeit verändern? Was sind die großen Trends?“
„Der gesamte Bereich Finanzen wird sich ganz massiv verändern und wird durch zwei Megatrends getrieben:
1) die technologischen Veränderungen und
2) eine Wahrnehmungsänderung bei den Kunden, die nicht mehr alles blind glauben sowie Leistungen und Produkte deutlich kritischer hinterfragen. So ist es nun z.B. erstmals möglich, Mikrokredite einfach und unkompliziert zu vergeben oder internationale Überweisungen deutlich schneller und kostengünstiger als bisher durchzuführen. Auch kann man Kunden hochwertige Beratungen und Portfolioanalysen praktisch auf Knopfdruck zur Verfügung stellen, wie dies z.B. yavalu.de macht.“

2  Beispiele von neuen Geschäftsmodellen in der Finanzindustrie

Um die neuen Möglichkeiten, die das Internet in Kombination mit der Finanzindustrie bieten, besser aufzeigen zu können, werden nachfolgend einige Themenfelder anhand anschaulicher Beispiele etwas genauer erläutert. Da eine ausführlichere Erklärung den verfügbaren Umfang dieses Artikels sprengen würde, wird für weiterführende Informationen auf die jeweiligen Websites verwiesen.

2.1  Personal Finance Management: mint (www.mint.com)

Mit Personal-Finance-Management-Lösungen wie mint erhalten Endkonsumenten mehr Kontrolle und Transparenz über ihre persönlichen Finanztransaktionen. Via PC oder Smartphone bekommen Nutzer von mint jederzeit eine Übersicht über ihre Ein- und Ausgaben und können basierend darauf ihr persönliches Haushaltsbudget besser organisieren. Mint visualisiert zudem alle Geldströme, womit endlich klar wird, in welchen Bereichen das zuvor verdiente Einkommen überhaupt wieder ausgegeben wird. Interessant ist auch das Geschäftsmodell von mint, denn der Service ist für die Nutzer komplett kostenlos und finanziert sich einzig über zielgruppenspezifische Werbung.
Abbildung 1
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2.2  Crowdfunding: c-crowd (www.c-crowd.com)

Via Crowdfunding (im deutschsprachigen Raum auch „Schwarmfinanzierung“ bezeichnet) werden über die Masse (crowd) Projekte finanziert (funding).[9] Insbesondere durch die Einbindung sozialer Medien ist es heute sehr viel einfacher möglich, eine breite Basis an Unterstützern zu finden, d.h. Crowdfunding ist eng an die viralen Marketing- und Vertriebsmöglichkeiten des Internets geknüpft. Das Thema Crowdfunding ist ein in den Medien mittlerweile sehr ausführlich beleuchtetes Phänomen[10] und inzwischen sind auf der ganzen Welt weit über 100 Crowdfunding-Plattformen aktiv.[11] Nicht selten wird dieser Entwicklung das Potenzial vorausgesagt, zumindest für kleinere Finanzierungsrunden die Finanzierungsindustrie komplett auf den Kopf zu stellen und durch die Masse zu demokratisieren. Beim amerikanischen Anbieter Kickstarter (www.kickstarter.com) als Beispiel kam via Crowdfunding für ein einziges Projekt mit der Hilfe von rund 69 000 Unterstützern bereits über zehn Millionen USD zusammen[12] und die Plattform hat bisher für gut 26 000 erfolgreich finanzierte Projekte total über 240 Millionen USD an Kapital vermittelt (Stand: Juli 2012).[13]
Abbildung 2
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2.3  Peer-to-Peer Lending: Zopa (www.zopa.com) oder Prosper (www.prosper.com) oder Smava (www.smava.de)

Als Peer-to-Peer (P2P) Lending werden Kredite bezeichnet, die direkt von Privatpersonen an Privatpersonen unter weitgehender Ausschaltung einer Bank oder anderen traditionellen finanziellen Institution gewährt werden.[14] Auch bei diesen Modellen ermöglicht das Internet neue Formen des Austausches, welche bis vor Kurzem traditionellen Finanzinstituten vorbehalten gewesen sind.
Abbildung 3
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2.4  Community Banking: Fidor Bank (www.fidor.de)

Die Fidor Bank ist eine in Deutschland zugelassene, internetbasierte Direktbank. Sie nahm im 2009 nach Erhalt der Vollbanken-Lizenz ihren Betrieb auf und ist an der Börse notiert.[15] Unter dem Motto „Banking mit Freunden“ überträgt die Fidor Bank die zentralen Wirkprinzipien des Web 2.0 – Offenheit, Transparenz, Authentizität und Dialogbereitschaft – auf das Thema Finanzdienstleistung.[16] Der Dialog mit Kunden, Mitgliedern und Interessenten wird weitgehend öffentlich und im Internet geführt, weshalb die Fidor Bank auf Twitter, Facebook, Xing und Youtube aktiv ist.
Abbildung 4
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3  Ausblick

Wie geschildert, befinden sich Banken und die Finanzwelt in einem schmerzhaften Transformationsprozess, der die Branche in einem bisher noch nie dagewesenen Ausmaß verändern wird. Diese Umwälzungen werden nicht von heute auf morgen stattfinden und je nach Thema und Markt wird die Anpassung noch viele Jahre dauern; die Transformation per se ist aber unausweichlich.
Aufgrund von Innovationskraft, neuer Technologien sowie schlanker Geschäftsmodelle werden neue Marktteilnehmer den etablierten Instituten in einigen Bereichen potenziell den Rang ablaufen.

3.1  Next Generation Finance als Megatrend

Die Disintermediation von Banken wird sich in Zukunft verstärken und neue Akteure werden Teilbereiche der Finanzmärkte dominieren. Im Bereich Retail-Forex (Währungshandel für Endkonsumenten) ist dieser Trend bereits stark ausgeprägt. Ein Vorreiter ist hier beispielsweise die Firma OANDA (www.oanda.com). Der Einfluss von neuen Modellen auf die Finanzwelt wird sich absehbar auch in anderen Bereichen weiter akzentuieren.
Stärkere Regulierung wird die Generierung von neuen intransparenten Produkten mit hohen Margen erschweren, die Einkünfte der Finanzinstitute werden auf einem niedrigeren Niveau verharren und starke Einschnitte auf der Kostenseite werden notwendig. „Ein Zehntel des Preises mit einem Zehntel der Leute“ könnte zum Credo der Produktmanager werden, was von etablierten Finanzinstituten mit starren Strukturen und hohen Fixkosten schlichtweg nicht abbildbar sein wird. Neue „Greenfield-Player“ werden sich darauf fokussieren, bestehende Wertschöpfungsketten aufzubrechen und an die neuen Bedürfnisse angepasst, d.h. mit kostengünstigen, da schlanken Strukturen, bestehen für diese neuen Anbieter bisher noch nie dagewesene Chancen.
Selbstverständlich schauen die etablierten Finanzdienstleister diesem Veränderungsprozess heute nicht völlig tatenlos zu und sichern sich in einigen „Neuen Märkten“ ein Standbein durch Produktkooperationen mit aufstrebenden, innovativen und technologiegetriebenen Jungunternehmen. Zumeist werden diese Kooperationen nicht prominent positioniert, sondern oft eher halbherzig und als Absicherung eingegangen, falls sich das betreffende Geschäftsmodell tatsächlich nachhaltig durchsetzt.
Finanzdienstleister setzen auch zunehmend auf Outsourcing, um sich einen Teil des potenziell sehr großen Kuchens zu sichern, gehen jedoch das Risiko ein, bei schnellen und massiven Veränderungen nicht vorne dabei zu sein.
Es bleibt abzuwarten, wie die Chancen für neue Anbieter in diesem Umfeld sein werden und ob sich die neuen Modelle als nachhaltig erweisen und sich langfristig durchsetzen können. Ohne Zweifel wird aber der Margen- und Kostendruck bei den etablierten Finanzdienstleistern weiter massiv zunehmen und sie zu energischem Handeln zwingen, um eine Antwort auf die Umwälzungen im Finanzmarkt, getrieben von Next-Generation-Finance-Geschäftsmodellen, zu finden.

Fußnoten:
[1] Siehe Wikipedia zu „Internet“ http://de.wikipedia.org/wiki/Internet.
[2] Gemäß http://www.internetworldstats.com/stats.htm haben aktuell über 2.2 Milliarden Menschen auf der Welt Zugang zum Internet.
[3] Gemäß MSNBC (http://www.msnbc.msn.com/id/44092064/ns/business-us_business/t/
ten-most-valuable-companies-america/#.T1hyZcBs4rc) war Google im 2011 in Bezug auf die Marktkapitalisierung die sechstgrößte Unternehmung der USA.
[4] Siehe Wikipedia zu „Google“: http://en.wikipedia.org/wiki/Google.
[5] Siehe u.a. Artikel im Handelsblatt vom 28.03.2012: Banken und Social Madia – Next Banking oder gespaltenes Bewusstsein? http://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/banken-und-social-media-next-banking-oder-gespaltenes-bewusstsein/6443170.html.
[6] Siehe die von der Finanzplattform assetinum publizierte Studie „Social-Media-Studie Banken 2012“ http://www.assetinum.com/de/social-media-studie-2012.html.
[7] Siehe weiterführende Ausführungen im Interview mit dem Autor dieses Artikels, Marc P. Bernegger, auf Gründerszene vom 17.01.2012 http://www.gruenderszene.de/interviews/banking-2-0-finance-2-0-marc-bernegger-nextgfi oder im Interview „Wir sehen einen langen Megatrend“ in: Handelszeitung, März 2012, http://blog.nextgfi.com/2012/03/15/next-generation-finance-invest-in-der-handelszeitung.
[8] Per E-Mail geführtes Interview zwischen Michael Brehm und Marc P. Bernegger im August 2012.
[9] Siehe Eintrag zu Crowdfunding auf Wikipedia unter http://de.wikipedia.org/wiki/Crowdfunding.
[10] Siehe u.a. diverse Medienartikel über die Schweizer Crowdfunding-Plattform c-crowd unter www.crowdfunding.ch.
[11] Eine aktuelle Übersicht über die aktiven Crowdfunding-Plattformen auf der ganzen Welt findet sich unter: http://leanderwattig.de/index.php/2010/10/22/liste-mit-crowdfunding-plattformen-wer-kennt-noch-andere/.
[12] Eine Aufstellung der bisher größten Crowdfunding Projekte unter: http://www.nzz.ch/aktuell/wirtschaft/nzz_equity/das-internet--die-neue-bank-1.17343321.
[13] Unter http://www.kickstarter.com/help/stats?ref=footer können alle relevanten und aktuellen Statistiken zu Kickstarter abgerufen werden.
[14] Siehe Eintrag zu „Peer-to-Peer-Kredit“ unter Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/
Peer-to-Peer-Kredit.
[15] Weitere Informationen zur Fidor Bank finden sich auf Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/Fidor_Bank) und auf der Website der Fidor Bank selbst (https://www.fidor.de/
ueber-uns-fidorbankag).
[16] Siehe Unternehmensportrait der Fidor Bank unter https://www.fidor.de/ueber-uns-fidorbankag.

Denken in Generationen: methodische Betrachtungen eines Zukunftsforschers zur nächsten Generation

Andreas M. Walker
 
1  
Was sind „Generationen“?
2  
Langfristiges Denken: das Jahr „2050“ als neuer Code
3  
Nachhaltiges Denken
4  
Denken in Szenarien
5  
Denken in Restrisiken: Wild Cards und Black Swans jenseits von Pareto
6  
Denken mit Hilfe von Megatrends

1  Was sind „Generationen“?

Der Anspruch, Finanzdienstleister der „nächsten Generation“ sein zu wollen, fordert in besonderer Weise zum Denken heraus, erleben wir doch gegenwärtig eine pluralistische Gesellschaft, die zerrissen ist in der Orientierung an einer konservativen Wertordnung aus einer romantischen Vergangenheitsvorstellung heraus, an der hedonistischen Genuss- und Gewinnmaximierung in der Gegenwart und an verschiedensten innovativen Visionen für die Zukunft, wobei gerade im deutschen Kulturraum unklar ist, ob es denn überhaupt noch politisch korrekt ist, Hoffnung für eine noch bessere Zukunft zu hegen, oder ob es für die intellektuelle Elite nicht doch eher angemessen ist, in den Kreis der Zweifler und Warner einzustimmen, die die baldige Apokalypse zwischen Überfremdung, Überalterung, Überschuldung und vielen anderen Übermächten erahnen. Wobei der Begriff der „Apokalypse“ in den letzten Jahrzehnten eine grundlegende Umdeutung erfahren hat: Jahrhundertelang im christlichen Weltbild und Zeitverständnis verwurzelt, bezeichnete dieser Begriff eben nicht die Endzeit als die letzte historische Epoche, sondern die vorletzte: Ähnlich den Schrecken und Schmerzen einer Geburt sollte zwar das Leben und Wirtschaften auf dieser Welt ein Ende finden – das Ziel bestand aber im Hinüberschreiten in ein neues, himmlisches und ewiges System. Die Apokalypse stand für eine „Wende“ – die aktuell in der Bevölkerung weitherum akzeptierte Vorstellung eines endgültigen „Endes“ des menschlichen Lebens ist erst in jüngster Zeit entstanden, insbesondere als Folge des materialistischen Weltbildes, des atomaren Wettrüstens und der kaum noch kontrollierbaren Nebenfolgen des technischen Fortschritts und der daraus resultierenden Umweltbelastung.
„Generation“ war für lange Zeit der „Code“ für das Leben und für eine Wertvorstellung, die sich über Jahrhunderte von Generationen von Vorfahren und Ahnen in der Vergangenheit entwickelte und bewährte, die in der Gegenwart in fruchtbarer Weise gelebt und gemehrt werden sollte und die schließlich an die kommenden Generationen von Nachkommen und Erben weitergegeben werden sollte.
„Generation“ ist seit einigen Jahren ein inflationärer Begriff, insbesondere seit „Innovation“ und „Wachstum“ kaum hinterfragte Selbstzwecke bzw. Motoren eines sehr kurzlebigen Wirtschaftsverständnisses geworden sind und Produktezyklen sich im weltweiten Wettbewerb schier überschlagen. Das populärste Smartphone wurde seit 2007 bereits in sechs Generationen „geboren“, was einer Generation pro Jahr entspricht. Das bekannteste Softwarepaket für Büroarbeiten brachte es seit 1989 auf 14 Generationen – also einer knapp zweijährigen Generationenfolge.
Wie anachronistisch muten sich da die biologischen Randbedingungen des Menschen an – der ja angeblich als Kunde im Zentrum des Wirtschaftens stehen sollte und dessen Bedürfnisbefriedigung eigentlich die hohe Kunst einer Dienstleistungsgesellschaft wäre. So kann der Mensch zu Beginn des 21. Jahrhunderts (in der Schweiz) bei Geburt ein Lebensalter von rund 80 Jahren erwarten – gegenüber der „guten alten Zeit“, sagen wir etwa Mitte des 19. Jahrhunderts, entspricht dies mehr als der Verdoppelung der Lebenserwartung. Ein Angestellter mit Berufsbildung muss während 50 Jahren „im Schweiß seines Angesichtes“ seinem Broterwerb nachgehen, bevor er mit 65 Jahren den „Ruhestand“ erreicht und einen „Lebensabend“ von rund 20 Jahren genießen darf. Da Leben nicht nur aus Arbeit besteht und das Denken in „Generationen“ explizit die Frage nach der Fortpflanzung aufwirft, fällt auf, dass eine „Menschengeneration“ nicht etwa dem numerischen Ideal eines Jahrzehntes entspricht, sondern die durchschnittliche Mutter in Mitteleuropa gegenwärtig etwa 30 Jahr alt ist, bevor sie das erste Mal neues Leben gebärt – obwohl sie ihre biologische Fruchtbarkeit zwischen dem 10. und 15. Lebensjahr erreicht hätte. Bei einer Lebenserwartung von rund 80 Jahren erlebt der Mensch also knapp drei menschliche Generationen. Tragisch mutet dabei der Umstand an, dass die mittlere Ehedauer nach 15 Jahren abbricht.
Wie häufig möchte und kann nun der Mensch in seinem biologischen Leben sein Finanzgebaren ändern?

2  Langfristiges Denken: das Jahr „2050“ als neuer Code

Seit einigen Jahren tauchen im Umfeld von Politik und internationalen Organisationen zahlreiche neue Studien zum Zeithorizont „2050“ auf. So finden sich insbesondere Arbeiten zum Zeithorizont 2050 des Club of Rome, der United Nations und ihrer Annex-Organisationen, des Intergovernmental Panel on Climate Change IPCC, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der Weltgesundheitsorganisation WHO, des Kongresses Planet under Pressure, des World Business Council for Sustainable Development WBCSD bzw. diverser Wirtschaftskonzerne, die Mitglied des WBCSD sind, der Europäischen Union und ihrer Annex-Organisationen, diverser deutscher Ministerien und Annex-Organisationen und deutscher Parteien.
Viele der langfristigen Studien mit Zeithorizonten um 2050 fokussieren auf die Umweltthematik, insbesondere was die Knappheit der fossilen Brennstoffe oder was die durch CO2 bedingte Klimaerwärmung betrifft. Ebenso finden sich Studien im Zusammenhang mit dem globalen Bevölkerungswachstum, die sich auch mit der globalen Wasser- und Ernährungsfrage befassen.
Die meisten Studien nehmen in technisch wie auch politisch zweckoptimistischer Weise als Absichtserklärungen und politische Machbarkeitsstudien an, dass diese Themen in den kommenden Jahren den nötigen politischen Druck erhalten werden und gemeinsam mit dem nötigen technischen Fortschritt in Mitteleuropa in den kommenden Jahrzehnten viel zum Guten hin bewegt werden kann, d.h. dass es zu keiner Eskalation und Katastrophe kommen wird. Hier ist offensichtlich, dass mit der Methode der zweckoptimistischen politischen Vision gearbeitet wird. Entgegengesetzt finden sich auch Studien, Filme und Games, die eine katastrophale Zukunft aufzeigen, und über die Methode der Angst eine drastische Veränderung des Verhaltens in der Gegenwart provozieren wollen.
Obwohl bei vielen Studien zum Zeithorizont „2050“ sehr großer Rechenaufwand betrieben wird und Prognosen bis in den Komma-Bereich formuliert werden (da die Software ja mittlerweile von alleine rechnet), ist schnell ersichtlich, dass das Arbeiten mit einem Zeitraum von 40 Jahren und dem Zeithorizont „2050“ nicht im kalendarischen Sinne gemeint sein kann. Vielmehr geht es darum, bewusst mit einem Zeithorizont zu arbeiten, der die üblichen politischen und behördlichen Planungs- und Entscheidungs-Zyklen übersteigt. Es handelt sich hier um eine neue Phase bzw. um eine Renaissance einer Planungskultur, da sich in den vergangenen zwanzig Jahren die konkrete Erwartungshaltung von Wirtschaft, Verwaltung, Politik und Medien im Allgemeinen an kurzfristigen Zeithorizonten und an einem technik- und naturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnis orientiert. So hat sich insbesondere in den Jahren 1990-2010 ein sehr stark gegenwartsorientiertes und kurzfristiges Bewusstsein entwickelt. Für ein derartig langfristiges, generationenübergreifendes Denken zu einer hochkomplexen und dynamischen Fragestellung existiert in Mitteleuropa (noch) keine politisch oder wissenschaftlich anerkannte Planungs- und Entscheidungskultur.
Das Jahr 2050, also ein Zeithorizont von rund 40 Jahren, steht als Code für ein generationenübergreifendes, nachhaltiges Denken und Planen.

3  Nachhaltiges Denken

Im letzten Jahrzehnt ist das Schlagwort „Sustainability“ populär geworden – sogar in der Beschreibung von Finanzprodukten und in Rechenschaftsberichten von Banken findet sich diese Begrifflichkeit. Erstaunlicherweise geht es bei diesem Ansatz nicht etwa um „political correctness“ oder um „schnell reich werden mit guten Gewissen“, sondern um die Sicherstellung der Lebensgrundlagen für kommende Generationen.
„Nachhaltig“ bedeutet nicht einfach ein mittelfristiges Entwickeln von Maßnahmen, die nicht bereits wieder korrigiert werden, bevor sie überhaupt Wirkung zeigen konnten. Nachhaltigkeit ist eigentlich eine Verpflichtung zum Denken für kommende Generationen. Der Begriff der Nachhaltigkeit stammt ursprünglich aus der deutschen Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts: So sollte nie mehr Holz gefällt werden, als jeweils nachwachsen kann – oder anders gesagt: Der Großvater pflanzt den Wald, der Vater hegt den Wald, der Sohn erntet, so viel er benötigt.
Dieses Denken macht in der Finanzwirtschaft Sinn, wenn es darum geht, das Vermögen von Dynastien zu hegen und zu pflegen und weiterzuvererben. Nicht der schnelle, spekulative Gewinn, sondern der Erhalt für die kommenden Generationen steht im Zentrum dieses Denkens, wobei der Zusammenhalt innerhalb der besitzenden Familie ein wichtiges Motiv war.
Dieses Denken, das eine starke ethische Komponente auszeichnet, ist in einer Gesellschaft, die durch Antibabypille und Schwangerschaftsabbruch immer häufiger auf eigenen Nachwuchs verzichtet, und die keine generationenübergreifenden Familien, sondern nur noch Lebensabschnittsbeziehungen pflegt, eigentlich eine große Herausforderung.

4  Denken in Szenarien

Der Begriff „Szenario“ wird einerseits in der Zukunftsforschung als Methode der Früherkennung, der (politischen) Planung und (politischen) Diskussion und andererseits in der Sicherheitsbranche für Einsatz-, Krisen- und Katastrophenübungen verwendet.
Nachdem in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das Weltbild der Planung auch im gesellschafts- und politikwissenschaftlichen Bereich noch stark von mechanistischen Vorstellungen aus den Naturwissenschaften und den Ingenieurtechniken geprägt waren, und die Prognose durch Experten das übliche Tool war, änderte sich dies in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend.
Die Gefahr von Fehleinschätzungen seitens der Prognostik vergrößert sich in einer Zeit zunehmender Dynamik und Komplexität seit der Mitte des 20. Jahrhunderts erheblich. So traten seit den späten 60er Jahren lineare Methoden wie Zeitreihenanalysen, Trendextrapolationen und Modelle, die ihre Aussagen hauptsächlich aus der Statistik ableiteten, immer mehr in den Hintergrund. Als Beispiel sei etwa an die Fehlaussagen der Bevölkerungshochrechnungen aus den 60er Jahren erinnert.
Seit den 80er Jahren gelten die wissenschaftlichen Bemühungen, aber auch die Anwenderpraxis immer häufiger dem Einsatz der Szenario-Technik. Dabei haben sich verschiedene Schulen herausgebildet, wie Szenarien entwickelt und dargestellt werden. Insbesondere in politisch relevanten Bereichen, in denen keine Einheit in der Problemanalyse und der Zielformulierung besteht, wird häufig mit Szenarien gearbeitet.
Die Szenario-Technik wird für die Erarbeitung und Beschreibung künftiger wahrscheinlicher oder möglicher Entwicklungen bzw. zukünftiger Situationen verwendet. Mit dieser Technik der primär qualitativen Simulationen können insbesondere Faktoren einbezogen werden, die datenmäßig noch wenig belegbar und quantitativ kaum messbar sind. Sie ist eine Prognosetechnik, die auf der Ebene der langfristigen, strategischen Planung angewendet wird. Entscheidend ist, dass keine Prognose für die Entwicklung berechnet oder formuliert wird. An ihre Stelle tritt die Beschäftigung mit verschiedenen alternativen Zukünften – diese sollen verschieden, aber alle aufgrund der aktuellen Erkenntnisse realistisch sein.
Dabei soll es sich beim Szenario nicht um ein Analysesystem handeln, das mögliche Entwicklungen und Einwirkungen auf einen einzigen Entwicklungs- bzw. Handlungsstrang einengt. Die Szenario-Technik wird vielmehr bewusst dafür eingesetzt, ein Denken in Alternativen zu fördern. Unsicherheit wird bewältigt oder unter Kontrolle gehalten, indem mögliche Verhaltens- und Strukturmuster erarbeitet und vorausdenkend simuliert werden. Statt von prognostizierten zukünftigen Zuständen gehen systemische Manager von wahrscheinlichen, überraschungsarmen und/oder überraschungsreichen Szenarien aus. Diese erlauben es, strategische Entscheidungen zu fällen und zu überprüfen. Sie erlauben auch, Eventualhandlungen zu durchdenken und zu planen.
Der Begriff des „Szenarios“ ist dabei aus der Dramaturgie entliehen: Möglichst konkret und vorstellbar sollen vergleichbare Szenen verschiedener möglicher Zukünfte parallel beschrieben werden, damit Entscheidungsträger und Stakeholder gemeinsam darüber diskutieren können, ob diese Art von Zukunft gewollt ist bzw. welche Maßnahmen zur Förderung oder Eindämmung von Auswirkungen ergriffen werden müssen.
Beim Arbeiten mit Szenarien wird – im Gegensatz zur herkömmlichen Prognose – von vornherein darauf verzichtet, die Genauigkeit in der mathematischen Beschreibung zu suchen. Es handelt sich um ein argumentatives Verfahren zur Ermittlung künftig möglicher oder wahrscheinlicher Situationen und Entwicklungen. An die Stelle rechnerischer Genauigkeit tritt die größtmögliche Differenziertheit der Zukunftsbeschreibung.
Die Szenario-Technik schließt – wie allerdings auch die herkömmliche Prognose – subjektive oder vorwissenschaftliche Einflüsse nicht aus. Sie sind beim argumentativen Szenario aber leichter festzustellen und einzuschätzen als bei Modellrechnungen, die eine Scheingenauigkeit suggerieren, die für Außenstehende, Medien und Bevölkerung ohne spezifische Fach- und Modellkenntnisse nicht nachvollziehbar sind.
Mit der Szenario-Methode wird die Hoffnung verbunden, dass im Planungs- und Entscheidungsprozess künftige Wirkungsverläufe samt ihrer Konsequenzen bildhafter dargestellt und damit vom Anwender oder Leser wesentlich besser verstanden und beurteilt werden können. Szenarien sollen deshalb künftige Situationen und Handlungsmöglichkeiten in einer Art beschreiben, die den Umgang mit Veränderungen schult und die Verhaltensänderungen ermöglicht.
Szenarien haben daher die Aufgabe, Verständnis für Zusammenhänge, Prozesse und entscheidungsrelevante Momente zu schaffen und damit die Befähigung zu zukunftsgerechten Handlungen zu vermitteln und nicht primär die Richtigkeit im Sinne von Eintreffwahrscheinlichkeit anzustreben. Um das Denken in Alternativen und Varianten zu ermöglichen und zu fördern, sind Szenarien keine Aussagesysteme, die die künftige Wirklichkeit auf einen einzigen Handlungsstrang einengen. Szenarien sollen abzubildende Komplexität nicht reduzieren, sondern sich dieser möglichst weit annähern.
Szenarien vereinigen tabellarische und grafische Darstellungen, um die Vergleichbarkeit zu ermöglichen, mit ausformulierten verbalen Situations- und Entwicklungsbeschreibungen, die einfach vorstellbar sein sollen.

5  Denken in Restrisiken: Wild Cards und Black Swans jenseits von Pareto

Unsere Gesellschaft wurde 1986 durch die Tschernobyl-Katastrophe in der Ukraine und durch die Schweizerhalle-Katastrophe in der Schweiz herausgefordert. Die Entstehung der „Risiko-Gesellschaft“ war die Folge.
Die zwei Börsenkrisen des letzten Jahrzehntes (Dotcom-Blase bzw. Scheitern der New Economy im Frühjahr 2000 und das Platzen der US-amerikanischen Real Estate Blase ab Herbst 2007), die islamistischen Terroranschläge (9/11 und Folgeanschläge), die Angst vor einer neuen globalen Pandemie sowie die kombinierte Erdbeben-, Tsunami- und Nuklearkatastrophe an der japanischen Ostküste um Fukushima herum im März 2011 bescheren uns gegenwärtig eine gesellschaftliche Situation, die als Restrisiko- oder gar Nullrisikogesellschaft bezeichnet werden kann. Insbesondere die beiden Börsenkrisen führten zur Forderung sogenannter „Stresstests“ für Banken.
So ist seit einem Jahrzehnt ein neues Tool in der Zukunftsforschung und im Business Continuity Planning aufgetaucht: Das Arbeiten mit „Wild Cards“ und „Black Swans“.
Auf Grund der Ökonomisierung unseres ganzen Weltbildes und des Verständnisses von Wirtschaft und Gesellschaft in den letzten 20 Jahren wurde in vielen Lebensbereichen das Pareto-Prinzip als Paradigma des Denkens und Handelns eingeführt. Das „Pareto-Prinzip“, auch „80-20-Regel“ genannt, besagt, dass 80% des Ergebnisses bereits mit 20% des Aufwandes erreicht werden kann. Für die letzten 20% der Zielerreichung wären die restlichen 80% des Aufwandes nötig. Da das Prinzip der Gewinnmaximierung in unserer Gesellschaft mittlerweile als Grundsatz weit verbreitet ist, werden häufig wahrscheinliche und unmittelbare Bedrohungen und Entwicklungen in der Planung und Risikovorsorge in den Vordergrund gerückt.
Die Methode des Arbeitens mit den eingangs erwähnten Wild Cards und Black Swans will demgegenüber Ereignisse thematisieren, die aufgrund von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen eigentlich erst in den letzten 5% der Planungsarbeit berücksichtigt würden. Da sie aber unverhältnismäßig große, ja katastrophale Auswirkungen zeigen können, genießen sie in der Risikoplanung und Zukunftsforschung eine außerordentliche Bedeutung. Insbesondere im Umgang mit Naturkatastrophen und in der gesellschaftlichen Diskussion der Kernenergie ist dieses Denken sehr wichtig geworden. In der Finanzwelt hat es wieder Einzug gehalten, als Ende der 00er Jahre die „Stresstests“ für Banken gefordert wurden.
Der Begriff „Wild Card“ stammt aus dem englischsprachigen Umfeld von Gesellschafts- und Glücksspielen. Er wird für den Joker in Kartenspielen verwendet, er entspricht im Tarot-Spiel, das im Bereich der Wahrsagerei eine große Bedeutung hat, dem „Narren“, und im Monopoly den „Ereigniskarten“, die als Zufallselemente angenehme und unangenehme Überraschungen bieten können.